Interview mit Past-Präsidentin der DDG
„Die Diabetesstrategie taugt nur, wenn sie auch umgesetzt wird“
Corona hat die Diabetesversorgung in den Hintergrund gedrängt. Jetzt sei es an der Zeit, dies zu korrigieren, sagt Professor Monika Kellerer, Past-Präsidentin der Deutschen Diabetes Gesellschaft, im Interview.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Seit mehr als einem Jahr leben wir in der Pandemie. Wie hat sich Corona bislang auf die Diabetesversorgung ausgewirkt, Frau Professor Kellerer?
Professor Monika Kellerer: Die Pandemie hat sich insgesamt ungünstig ausgewirkt. Vor gut einem Jahr wurde die Versorgung abrupt heruntergefahren, viele Patienten kamen aus Angst vor Ansteckung nicht zu Untersuchungen in Kliniken und Praxen. Infolgedessen haben wir teils schwere Stoffwechselentgleisungen beobachten müssen – insbesondere in der Kinderdiabetologie haben wir verlässliche Daten dazu. Sie zeigen, dass bei Neumanifestationen von Diabetes Typ 1 die Rate der Ketoazidose-Rate um 80 Prozent hochgegangen ist.
Sie sprachen die Ansteckungsgefahr an, die Patienten hat Kliniken und Praxen fernbleiben lassen. Ist die Gefahr weiter real?
Die Gefahr war selbst vor einem Jahr, in der ersten Welle kein Grund, die Versorgung zu meiden. Und jetzt ist es das um so weniger. Die Patienten wissen das inzwischen. Es gibt ausreichend Schutzmaterial und gute Hygienekonzepte in Krankenhäusern und Praxen. Viele der Diabetespatienten sind mittlerweile auch geimpft.
Prof. Monika Kellerer
- Fachärztin für Innere Medizin, Schwerpunkt Endokrinologie und Diabetologie
- Ärztliche Direktorin des Zentrums für Innere Medizin I am Marienhospital Stuttgart
- Schwerpunkte: Pathogenese Typ 2-Diabetes, Insulinresistenz, Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen
Haben Sie denn Rückmeldung, ob das flächendeckend geschehen ist?
Offizielle Erhebungen dazu sind mir nicht bekannt. Diabetespatienten mit Komplikationen sind in der Prio-Gruppe II eingestuft. Von denen sind nach dem, was wir in Kliniken und Praxen sehen, die meisten geimpft oder haben ein Impfangebot erhalten.
Und Sie raten auch dazu, sich impfen zu lassen?
Definitiv! Gerade Diabetespatienten mit Komplikationen oder auch in der Kombination mit Adipositas haben einen deutlich schlechteren Verlauf bei einer COVID-19-Erkrankung. Es liegen uns auch keine Daten vor, die nahelegen, dass Menschen mit Diabetes die Impfungen schlechter vertragen als jene, die nicht an Diabetes erkrankt sind.
Kurz vor der Zulassung sind Vakzine für junge Menschen ab 12 Jahren. Wie lautet hier die Empfehlung?
Vakzine von BioNTech/Pfizer sind ja bereits für ab 16-Jährige zugelassen. Diese Gruppe kann sich – wenn denn ausreichend Impfstoff da ist – impfen lassen, und wir würden das auch empfehlen. Was die Jüngeren anbetrifft, müssen wir Ergebnisse der EMA abwarten. Ich gehe davon aus, dass die pädiatrischen Kollegen in der Diabetologie das individuell mit den Kindern und Eltern entscheiden werden.
Hat die Pandemie anderen Versorgungsthemen die Schau gestohlen?
Ja. Medial wie gesundheitspolitisch dreht sich fast alles um die Bewältigung der Coronakrise – national wie weltweit. Zu bedenken ist dabei, dass wir vergangenes Jahr nicht nur eine COVID-19-Pandemie mit schätzungsweise 1,8 Millionen Toten weltweit hatten, sondern es jedes Jahr auch eine Diabetes-Pandemie gibt. Die WHO schätzt die Zahl der durch Diabetes verursachten Todesfälle auf etwa 1,6 Millionen. Wir müssen der Diabeteserkrankung rasch wieder größere Aufmerksamkeit widmen.
Im Herbst ist Bundestagswahl, das wäre ein guter Anlass. Bringt sich die DDG mit Wahlprüfsteinen ein?
Wir haben kürzlich Wahlprüfsteine an die Parteien geschickt und abgefragt, was sie zu tun gedenken, um die wichtige Verhältnisprävention bei Diabetes und Adipositas zu stärken. Stichworte sind hier gesunde Mehrwertsteuer, verpflichtender Nutri Score oder Werbeverbot für ungesunde Kindernahrung sowie mehr Bewegungsangebote in Kitas und Schulen.
Natürlich haben wir auch abgefragt, welche Konzepte die Parteien zur Sicherstellung der Diabetes- und Adipositasversorgung vorweisen können und was sie tun wollen, um die sprechende Medizin aufzuwerten. Ich bin auf die Antworten gespannt. Die Politiker sollten wissen, dass auch Millionen Menschen mit Diabetes an die Wahlurnen gehen.
Was erwarten Sie mit Blick auf die nationale Diabetesstrategie (NDS)?
Ja, wir haben da ein mehrseitiges Papier. Die Hoffnung, dass daraus noch viel Konkretes erwächst in dieser Legislaturperiode, haben wir nicht. Wir lassen aber nicht locker. Die Strategie taugt am Ende nur, wenn Inhalte auch umgesetzt werden. Ansonsten hätte man sich die Arbeit sparen können. Wir werden daher bei den Koalitionsverhandlungen nach der Wahl darauf drängen, dass möglichst viele Punkte der Strategie in Gesetzesvorhaben gegossen werden.
Argumente könnten – mal abgesehen von der individuellen Krankheitslast – die hohen direkten und indirekten Kosten des Diabetes sein?
Mein Eindruck ist, dass die Gesundheitspolitik auf diesem Auge blind ist. Vieles wird kurzfristig gedacht – von Legislatur zu Legislatur. Den Vorwurf müssen sich auch die Kassen gefallen lassen. Versorgung und Prävention von Diabetes sind aber keine Sache nur einer Wahlperiode – das braucht langfristige Konzepte.
Ein Baustein der NDS ist die gesunde Ernährung. Packt die Politik das Thema konsequent genug an?
Nein. Die Politik agiert hier zu mutlos. Ernährungsministerin Julia Klöckner hat mit ihrer nationalen Reduktionsstrategie viel zu niedrige und unkonkrete Ziele vorgelegt. Die Reduktion von Zucker und Fett in Lebensmitteln im niedrigen Prozentbereich kann kein Beitrag für eine spürbare Eindämmung von Diabetes oder Adipositas sein. Freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie reicht nicht.
Auf den Weg gebracht hat die Bundesregierung ein DMP Adipositas. Was erwarten Diabetologen davon?
Das ist einer der wenigen Lichtblicke der Diabetesstrategie. Die Politik scheint willens, wirklich etwas für eine bessere, kontinuierliche sektorenübergreifende Versorgung adipöser Menschen tun zu wollen. Die gibt es bislang nicht. Liefern muss dann aber auch die Selbstverwaltung. Und wir erwarten, dass die Expertise der Fachgesellschaften eingeholt wird. Gerade in der Diabetologie gibt es mit den multidisziplinären Behandlungsteams gute Konzepte, die sich für ein DMP Adipositas nutzen lassen.
GBA-Chef Josef Hecken hat betont, er hoffe auf eine adäquate Studienlage für evidenzbasierte Leitlinien. Sicher sei das nicht. Fürchten Sie eine Hängepartie?
Hundertprozentig lässt sich das natürlich nicht ausschließen. Aber einige Dinge haben sich seit dem Jahr 2014, als der GBA erstmals ein DMP Adipositas auflegen wollte, geändert. Seitdem ist eine Reihe neuer guter Studien aufgelegt worden. Auch gibt es inzwischen zahlreiche vielversprechende Arzneimittel, die noch in klinischen Studien geprüft werden.
Und zwar in hochrangigen randomisierten, kontrollierten Studien mit unter anderem kardiovaskulärem Outcome – das heißt mit relevanten Endpunkten. Zudem wird eine neue S3-Leitlinie zu Therapie und Prävention der Adipositas aufgelegt. Ich gehe davon aus, dass diese Ende 2021, spätestens Anfang 2022 vorliegt. Damit wäre eine gute Voraussetzung für das DMP Adipositas geschaffen.