Griechenlands krankes Gesundheitssystem

Die Folgen sind verheerend

Viele Jahre hat Griechenlands Bevölkerung zu den gesündesten Europas gehört - bis die Krise das Land traf. Heute ist nicht nur die steigende Zahl an Übergewichtigen alarmierend. Prävention findet aktuell quasi nicht statt - und Ärzten bleibt oft nichts anderes, als auf die Straße zu gehen.

Von Jana Kötter Veröffentlicht:

NEU-ISENBURG. Die Einschnitte im griechischen Gesundheitswesen haben die Bevölkerung hart getroffen. Kaum jemand sieht das so deutlich wie die Ärzte im Land. Immer wieder sind sie in den vergangenen Jahren deshalb auf die Straße gegangen, um zu protestieren.

Zuletzt zogen die Ärzte der staatlichen Kliniken mit Bannern, Trommeln und Sprechchören vor das Gesundheitsministerium in Athen. Minister Pavlos Polakis riefen sie zu, es sei an der Zeit, seine Pflicht zu tun und für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen.

Dass die Gesundheit der Bevölkerung seit Langem von der politischen Agenda im von der Krise gebeutelten Land gerutscht ist, belegt eine aktuelle Analyse der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Historisch gesehen, heißt es darin, habe der Gesundheitszustand der griechischen Bevölkerung zu den besten der EU gehört.

Doch die lange positive Entwicklung des Landes wurde - insbesondere bei Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs - abgehängt: Langsam fiel sie bereits zu Beginn des Jahrhunderts hinter andere europäische Staaten zurück, bis die 2010 offenkundig gewordene Wirtschaftskrise das Gesundheitssystem dann vollends zerbrach.

Heute liegt die Sterberate von Krebspatienten laut WHO-Bericht höher als 1970, die Kindersterblichkeitsrate stieg zwischen 2008 und 2010 um 43 Prozent. "Die pauschalen Sparmaßnahmen haben Leistungen in allen Bereichen verringert und die Gesundheitsversorgung ganz unmittelbar verschlechtert", sagt Alexander Kentikelenis von der Universität von Cambridge, Experte für die Folgen von Finanzkrisen.

Allein zwischen 2009 und 2012 wurden die staatlichen Ausgaben für Gesundheit in Griechenland um 24 Prozent zusammengestrichen, gleichzeitig konnten Privatversicherte ihre Zahlungen nicht mehr leisten: Die privaten Ausgaben für Gesundheitsleistungen brachen um 20 Prozent ein.

Immer mehr Übergewichtige und HIV-Infizierte

Inoffiziellen Schätzungen zufolge hat rund ein Drittel der elf Millionen Griechen aufgrund langanhaltender Arbeitslosigkeit keine Krankenversicherung mehr. Sozialkliniken sind für viele zur letzten Rettung geworden.

Heute sind es vor allem zwei Entwicklungen, die der WHO Sorge bereiten: die steigende Zahl an einerseits Übergewichtigen und andererseits HIV-Erkrankungen. Gerade Ersteres ist angesichts der traditionell mediterranen Ernährung verwunderlich.

Doch die Prävalenz von Übergewicht bei Kindern ist laut WHO heute eine der höchsten Europas, 66 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen gelten laut der aktuellen Studie als übergewichtig. Ein Grund, heißt es, könnte in einer "Verwestlichung" der Ernährung liegen.

Gleichzeitig ist das vielleicht größte Manko, dass die Prävention mit den Budgetkürzungen schlagartig ins Hintertreffen geraten ist. Medizin ist, kritisiert die WHO, in Griechenland heute vor allem eines: Therapie nach Diagnosestellung, nicht jedoch präventive Ansätze.

Dazu passt, dass Arzneimittel der größte Ausgabenposten im öffentlichen griechischen Gesundheitswesen waren und sind: Rund 44 Prozent des Gesamtbudgets der staatlichen Einheitsversicherung EOPYY waren 2013 für die Versorgung mit Arzneimitteln projektiert. Zum Vergleich: Im selben Jahr hat die deutsche GKV 16,5 Prozent ihres Budgets für Arzneien ausgegeben.

Der Mangel an Prävention könnte auch mitbegünstigen, dass die Zahl der Raucher seit Jahren die höchste Europas ist: Während in Griechenland mehr als jeder dritte Erwachsene (36 Prozent) täglich zur Zigarette greift, ist es in Europa laut WHO nur jeder Vierte (23 Prozent).

Und auch die steigende Zahl der HIV-Infizierten beobachtet die WHO vor dem Hintergrund mangelnder Prävention alarmiert. Ein direkter Zusammenhang mit der Krise sei zwar nicht zu belegen, doch ist die Zahl der HIV-Infizierten von vier Fällen pro 100.000 Einwohnern im Jahr 2000 auf zehn im Jahr 2012 gestiegen - ein Sachverhalt, der als "potenzielles Warnsignal für die Zukunft" gesehen werden muss, so die WHO.

Kein funktionierendes Vertragsarztsystem

Vor allem strukturell ist das tief zerklüftete Gesundheitssystem aber womöglich nicht ausreichend auf solche "Warnsignale" vorbereitet: Mediziner sind zwar zu Genüge im Land - doch sind sie vornehmlich privatärztlich oder in staatlichen Kliniken tätig.

Griechenland hat es versäumt, ein funktionierendes Vertragsarztsystem aufzubauen: Rund 73 Vertragsärzte kommen auf 100.000 Einwohner, Deutschland zählt 177. Und auch im Verhältnis von Ärzten und pflegendem Personal liegt in Griechenland ein Ungleichgewicht, zeigt die WHO-Analyse - mit einer extremen Schlagseite der Ärzteschaft.

Eine Lösung ist - zumindest kurz- und mittelfristig - nicht in Sicht. Das Land kommt nicht aus der Wirtschaftskrise und steckt weiter in der Deflation fest: Der Mai war bereits der 39. Monat in Folge mit fallenden Verbraucherpreisen. Gleichzeitig müssen zahlreiche strukturelle Probleme im Gesundheitssektor gelöst werden, konstatiert die WHO.

"Die Reform der Primärversorgung dauert an, noch wurde kein Vorbild definiert und das Ungleichgewicht zwischen Prävention und kurativer Medizin bleibt."

Es ist zu befürchten, dass die Ärzteschaft Griechenlands auch in den kommenden Jahren Grund haben wird, auf die Straße zu gehen und auf Missstände aufmerksam zu machen.

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