Nutzenbewertung

Ein Beschluss mit Sprengkraft vor allem für Vertragsärzte

Der Erstattungsbetrag für Arzneien als Mischpreis? – Unzulässig in bestimmten Konstellationen! Verordnung für Patientengruppen ohne Zusatznutzen? – Im Regelfall unwirtschaftlich! Ein Gerichtsbeschluss, des es in sich hat. Vor allem für Ärzte.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:

Es ist ein Prozess, der noch ganz am Anfang steht. Ein Streit um ein Arzneimittel ohne jede Bedeutung für die Versorgung. Und endgültig geklärt ist noch gar nichts. Dennoch hat es der Beschluss des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg im Fall Albiglutid in sich, weil er schon jetzt den Kassen das Tor für Regressanträge öffnen und als Präjudiz dafür gelten könnte, ob ein Erstattungsbetrag stets wirtschaftlich ist oder nicht (Az L 9 KR 437/16 KL ER).

Zum Sachverhalt: Im März und Juli 2015 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss den Nutzen von Albiglutid, einem GLP-1-Analogon, bewertet. Dabei wurden fünf Patientenpopulationen mit insgesamt rund 1,8 Millionen Diabetikern differenziert. Nur für eine Population von gut 600.000 Patienten sah der Bundesausschuss einen "Hinweis auf einen geringen Zusatznutzen" – für die anderen keinen Zusatznutzen. Die Verhandlungen des Herstellers GSK mit dem GKV-Spitzenverband blieben erfolglos, deshalb wurde die Schiedsstelle angerufen.

Hier beantragte der Hersteller einen Erstattungsbetrag von 21,41 Euro, der GKV-Spitzenverband einen von 6,70 Euro. Mit der ausschlaggebenden Stimme des Vorsitzenden setzte die Schiedsstelle einen Erstattungsbetrag von 20,01 Euro fest. Dabei wurde der Hersteller verpflichtet, Albiglutid ausschließlich in der Zusatznutzenpopulation zu bewerben, verbunden mit einem Sonderkündigungsrecht für den GKV-Spitzenverband, falls der Hersteller dagegen verstieße. Den Erstattungsbetrag hatte die Schiedsstelle nach einer Mischkalkulation ermittelt: erstens unter der Annahme, dass Vertragsärzte 80 Prozent zugunsten der Population mit Zusatznutzen, 20 Prozent zugunsten der Populationen ohne Zusatznutzen verordnen. Zweitens unter der Annahme, dass der Zusatznutzen mit rund 1200 Euro jährlich zu monetarisieren sei, was im Ergebnis den Erstattungsbetrag auf ein Vielfaches des Preises der zweckmäßigen Vergleichstherapie katapultierte.

Mischpreis "rechtswidrig und willkürlich"

Das wollte der GKV-Spitzenverband nicht hinnehmen und klagte vor dem LSG Berlin-Brandenburg. Im einstweiligen Verfahren entschied das LSG am 22. Februar, dass der Schiedsspruch rechtswidrig und willkürlich war. Seit Ende letzter Woche liegt die Begründung vor. Und die fällt in der Sache so eingehend aus, dass sie wohl präjudizierende Wirkung für das Hauptsacheverfahren, aber auch Auswirkungen auf die künftige Entscheidungsbildung in der Schiedsstelle und bei den Nutzenbewertungsentscheidungen des Bundesausschusses haben dürfte.

Eine besonders bittere Nebenwirkung der Entscheidung ist, dass das Gericht die Bildung eines Mischbetrages in jener Konstellation, in der der Bundesausschuss einer oder mehrerer Teilindikationen keinen Zusatznutzen zuerkannt hat, für rechtswidrig hält. Damit ist auch die Auffassung von Ärzten und Herstellern hinfällig, dass die Verordnung eines Arzneimittels mit Erstattungsbetrag in jedem Fall wirtschaftlich sei.

Und dies sind die Kernsätze des Beschlusses:

Der Senat weist "eindringlich" darauf hin, dass die Berechnungswege für die Ermittlung des Erstattungsbetrags offen gelegt und gerichtlich überprüfbar sein müssen. Dieses Kriterium hält der Senat für nicht erfüllt.

Der angefochtene Schiedsspruch sei "materiell rechtswidrig": Die Bildung eines Mischpreises verstoße gegen Paragraf 130b Absatz 3 SGB V, wonach bei nicht nachgewiesenem Zusatznutzen der Erstattungsbetrag nicht höher sein darf als der Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie. Hier sieht das Gericht keinen Ermessensspielraum der Schiedsstelle. Der Beschluss des GBA über die Nutzenbewertung habe "normative Wirkung" auch für die Schiedsstelle; diese habe keine Kompetenz, den GBA-Beschluss zu überprüfen oder zu verwerfen. Die Folge: "Mischpreisbildung ist rechtswidrig, wenn der GBA bei einer Patientengruppe einen Zusatznutzen erkannt und zugleich bei einer oder mehreren anderen einen Zusatznutzen verneint hat."

Eine vertragsärztliche Verordnung eines Arzneimittels ohne Zusatznutzen ist "grundsätzlich möglich". Zu beachten bleibe aber, "dass aus dem Vorhandensein eines Erstattungsbetrages nicht automatisch auf die Wirtschaftlichkeit einer jeden Verordnung geschlossen werden darf." Das ziehe Weiterungen nach sich, die der Gesetzgeber "sicher nicht beabsichtigt haben kann": Würden Vertragsärzte Albiglutid in Indikationen ohne Zusatznutzen verordnen, "würden sie sich im Regelfall unwirtschaftlich verhalten und der Gefahr eines Regresses unterliegen".

Die Lösung dafür liege in den Händen des Bundesausschusses: Entweder Arzneimittel für Populationen ohne Zusatznutzen von der Verordnungsfähigkeit auszuschließen oder zumindest mit einem Therapiehinweis zu belegen.

Damit wäre für Ärzte das Regressrisiko klar gestellt und vermeidbar. Andererseits wäre bei nicht nachgewiesenem Zusatznutzen die Therapiefreiheit des Arztes und damit seine Verantwortung für die Versorgung im Einzelfall stark eingeschränkt.

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