AOK-Chef

"Gutachteritis hilft uns jetzt nicht weiter!"

"Kassen sollen sich wie seriöse Kaufleute verhalten", sagt AOK-Bundesverbandschef Martin Litsch. Dass die Koalition einen rückwirkenden Finanzausgleich der Kassen plant, hält er für unglücklich.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung. Abgeordnete der Union vermuten, dass sich AOKen ärmer rechnen als sie sind. Stimmt das?

Martin Litsch

'Gutachteritis hilft uns jetzt nicht weiter!'

© AOK

Martin Litsch: Das ist eine ziemlich unsägliche Nummer. Denn was hat der Gesetzgeber vernünftigerweise allen Krankenkassen aufgegeben? Er hat gesagt, wir wollen, dass sich die Kassen verhalten, wie das im Handelsgesetzbuch für alle Unternehmen gilt, nämlich wie seriöse Kaufleute.

Das setzt voraus, dass man Einschätzungen für die Zukunft treffen muss und bilanzielle Risiken berücksichtigt. Sie können zum Beispiel eine Klage gewinnen oder verlieren. Die Zukunft ist immer ungewiss. Und genau dafür werden Buchungsrückstellungen gebildet. Dabei wird das sogenannte Imparitätsprinzip angewandt, wonach bei bestimmten Sachverhalten Verpflichtungen früher, Forderungen dagegen später eingestellt werden. Weder versickert Geld im Gesundheitsfonds, noch verschleiern Kassen etwas. Es handelt sich hier schlichtweg um unterjährige Buchungsbesonderheiten und Bilanzierungsregeln.

Im Übrigen sind unterjährige Verpflichtungsbuchungen auch kein spezielles AOK-Thema, sondern ein übliches GKV-Thema. In den vergangenen Jahren lag der Forderungs- beziehungsweise Verpflichtungsbetrag GKV-weit zwischen minus 53 Millionen Euro im Jahr 2010 und minus 757 Millionen Euro 2013. Damals haben zum Beispiel andere Kassen mögliche Verpflichtungen aus dem ausstehenden Urteil des BSG zum Berechnungsfehler berücksichtigt. Die Skandalisierung, die jetzt betrieben wird, ist also vollkommen abwegig und eventuell auch damit zu erklären, dass die Wahlen näher rücken.

ÄZ: Die Koalition hat im Transplantationsregistergesetz Änderungsanträge untergebracht, dass die Berechnungen für Auslandsversicherte und Krankengeld im Morbi-RSA rückwirkend gelten sollen…

Litsch: Für die Kassen ist es wichtig, zu wissen, auf welcher Basis sie ihre Haushalte planen. Wenn die Grundlage dafür jederzeit ex post verändert werden kann, sind die Planungen nichts mehr wert. Dann stehen wir auf Treibsand. Wer haftet dann eigentlich dafür, wenn Vorstände Entscheidungen auf der Grundlage des Zuweisungsbescheids vom September treffen und dann im laufenden Jahr wegen der rückwirkenden Geltung eines Gesetzes vom vorletzten Jahr plötzlich einen Zusatzbeitrag erheben müssen, weil der aufgestellte Haushalt unter den neuen Annahmen nicht mehr ausreicht. Kann der Vorstand dann die Verantwortung an das Bundesversicherungsamt abtreten?

In unserem Wirtschaftssystem gilt die verbindliche Regel, dass man nicht rückwirkend in die Verhältnisse eingreift. Deshalb sind wir über diese Änderungsanträge sehr unglücklich. Das gilt übrigens für fast alle Kassen und das BVA. Auch dort wird das Verantwortungsproblem gesehen.

ÄZ: Gerade hat das Gesundheitsministerium bestätigt, man wolle im nächsten Jahr 1,5 Milliarden Euro aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen zusätzlich ausschütten. Ist das eine Lösung, immer wieder den Fonds anzuzapfen?

Litsch: Das nimmt im Wahljahr zwar etwas Druck aus dem Kessel, schließt aber nicht die strukturelle Lücke in der GKV zwischen Einnahmen und Ausgaben. Kritisch ist auch, dass wieder einfach Beitragsgelder aus dem Gesundheitsfonds umgewidmet werden, um Aufgaben des Bundes zu refinanzieren. Die Krankheitskosten von ALG2-Empfängern (Hartz IV, d. Red.) sollten ausschließlich aus Steuermitteln getragen werden. Hier besteht das generelle Problem, dass die staatlichen Zuschüsse nicht ausreichend sind.

Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt in einer angemessenen Anhebung der Pauschalbeiträge des Bundes für Langzeitarbeitslose. Den Steuerzuschuss zu erhöhen, wäre nur die zweitbeste Variante. Denn in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass darauf wenig Verlass ist.

ÄZ: Der Morbi-RSA soll ja eigentlich einen Ausgleich schaffen zwischen den Kassen. Im Moment sorgt er aber vor allem für Hader. Was ist schief gelaufen?

Litsch: Der Morbi-RSA hat eine überzeugende Grundidee. Er soll in der GKV für Solidarität sorgen und Rosinenpickerei verhindern. Es soll keine Anreize für Kassen geben, sich nur auf junge gesunde Mitglieder zu konzentrieren. Wir hatten vor 2009 immer die Situation, dass die AOK im Schnitt etwas teurer war, weil die Krankheitslast ihrer Versicherten von vornherein höher war, und sie niedrigere Einkommen hatten.

Das hat sich durch den Morbi-RSA verändert. Heute steht die AOK gut da, und das ist berechtigt. Denn der RSA sorgt jetzt für faire Startbedingungen im Versorgungswettbewerb. Außerdem hat sich die AOK auf diesem Feld Vorteile erarbeitet. Beispiel Rabattverträge. Die hat die AOK sozusagen erfunden, und damit sparen wir mehr ein als andere Kassen.

Mittlerweile wirkt sich das auch auf die Wettbewerbsposition aus. Das ist aber kein Problem des Ausgleichs, sondern ein Verdienst des Managements.

ÄZ: Das sehen aber nicht alle so.

Litsch: Dass einzelne Krankenkassen im Markt unterschiedlich dastehen, ist normal. Und sicherlich ist es für einzelne Kassenvertreter gewöhnungsbedürftig, dass sich die Kassentektonik verschoben hat. Dass diese aber politisch wieder kassenartenspezifisch argumentieren, überrascht. Schauen Sie sich die Beitragssätze doch an: BKK ist nicht gleich BKK, Ersatzkasse nicht gleich Ersatzkasse. Und AOK nicht gleich AOK.

Es gibt ganz unterschiedliche Geschäftsstrategien. Außerdem haben wir regionale Märkte, die sehr unterschiedlich funktionieren. In Nordrhein-Westfalen gibt es viele Krankenhäuser, in Baden-Württemberg weniger. Auch die Versichertenstrukturen sind nicht überall gleich. Hier gibt es viele Hartz IV-Empfänger, dort weniger. Deshalb ist der Morbi-RSA das Beste, was wir bisher haben, um Risikoselektion zu verhindern.

ÄZ: Das wollen Sie ja jetzt bestätigt wissen. Das Bundesversicherungsamt soll den Morbi-RSA evaluieren, um die Vorwürfe aus dem Weg zu räumen, die AOKs würden vom System bevorzugt. Haben Sie Reaktionen auf diesen Vorschlag?

Litsch: Der Morbi-RSA ist nicht das kleine Einmaleins. Er ist aber auch nicht so geheimnisumwittert, wie oft getan wird. Von den Grundprinzipien verstehen auch Politiker etwas, die sich nicht jeden Tag damit beschäftigen. Derzeit kommen ja fast im Monatsrhythmus neue Gutachten dazu auf den Markt. Manchmal kommen sogar die gleichen Gutachter binnen Jahresfrist zu neuen Erkenntnissen. Aber Gutachteritis und Auftragsarbeiten helfen uns jetzt nicht weiter.

ÄZ:

Was könnte helfen?

Litsch: Ich bin sehr dafür, den Morbi-RSA insgesamt zu evaluieren. Die, die eine vernünftige Datenbasis haben, sind nicht die Auftragsgutachter. Die haben immer nur die Daten einzelner Kassen. Das ist nicht repräsentativ. Nur das BVA hat die erforderlichen Daten in ausreichender Menge und Qualität.

Deswegen werben wir dafür, dass der wissenschaftliche Beirat des BVA eine Gesamtevaluation vornimmt, deren Ergebnisse veröffentlicht werden. Dann erst kennen wir die Konsequenzen der Vorschläge und dann können wir auch sinnvoll über einzelne Vorschläge diskutieren. Falls dann Änderungsbedarf besteht, kann die Politik handeln.

Ein Schwenk zur Finanzierung der Zukunft. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung entwickelt Modelle einer gesteuerten Versorgung und bringt Wahltarife wieder ins Gespräch. Haben Sie schon über mögliche Konsequenzen für Kostenträger nachgedacht?

Litsch: Das sind dicke Bretter, die da gebohrt werden. Am Ende will die KBV den Zugang zu Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung differenzieren und das in Preisen unterschiedlich abbilden. Das geht weit über das hinaus, was wir heute über Wahltarife anbieten. Kurzum: Es wäre ein gravierender Eingriff in unser Geschäftsmodell.

Über ein Arztinformationssystem soll die Quote der Verordnungen von Arzneimitteln mit positiver Nutzenbewertung gesteigert werden. Wie viel Einfluss wollen die Kassen darauf nehmen?

Litsch: Auf jeden Fall müssen die Informationen herstellerunabhängig sein. Wenn neue Arzneimittel nach dem AMNOG-Verfahren einen Zusatznutzen haben, dann wollen wir auch, dass diese Arzneimittel für die betroffene Indikation in die Versorgung kommen. Die neuen Arzneimittel können hochwirksam sein, aber oft nur für bestimmte Patientengruppen.

Gleichzeitig gibt es viele Subtypen, bei denen sie nicht wirken. Wir müssen dem Arzt über seine Praxissoftware helfen, dass er schnell und einfach die Übersicht behält und Innovationen sachgerecht verordnet. Diese Medikamente sind ja keine Streuartikel. Die Verordnung muss wirtschaftlich erfolgen und Wirtschaftlichkeit kann nicht einfach nur über den Erstattungspreis hergestellt werden.

Wie meinen Sie das?

Litsch: Die Pharmaindustrie hat die Idee ins Spiel gebracht, Wirtschaftlichkeit ausschließlich über den Preis zu definieren. Das halte ich für gefährlich. Es ist nicht so, dass das, was Kassen und Hersteller als Erstattungspreis verhandelt haben, automatisch auch wirtschaftlich ist. Der Preis mag angemessen sein. Die Wirtschaftlichkeit entsteht aber immer erst dadurch, dass der Arzt in einer spezifischen Therapiesituation das in Frage stehende Arzneimittel individuell einsetzt oder eine Therapiealternative wählt.

Regionale Zielvereinbarungen zum Beispiel können geeignete Instrumente sein, um dem Arzt zusätzliche Auswahlmöglichkeiten und mehr Sicherheit zu geben. Der Arzt ist ja kein Verschreibungsroboter, der nur ein Ja oder Nein-Schema befolgt. Er braucht verständliche Informationen und klare Optionen, und Zielvereinbarungen liefern genau das. Diese kooperative Vorgehensweise zwischen Ärzten und Kassen sollte man unbedingt erhalten.

Und die technische Umsetzung?

Litsch: Noch gibt es ein paar Baustellen. Der GBA muss die an die Ärzte gelieferte Information amtlich machen. Zudem müssen wir auf das Rezept die Information bringen, für welche Subpopulation nun tatsächlich das Arzneimittel mit Zusatznutzen verordnet worden ist. Die technische Lösung dafür gibt es bereits. Wir haben mit unserer Tochtergesellschaft gevko eine Lösung parat, die morgen umgesetzt werden könnte. Wir brauchen also nicht darauf zu warten, bis sich die KBV wieder handlungsfähig zeigt, sondern können den Vertragsärzten GKV-weit gleich helfen.

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