Organentnahme

Hirntod ist nicht gleich Tod

Der Hirntod bedeutet nicht zwangsläufig, dass jemand tot ist, erläutert der Philosoph und Ethikexperte Professor Dieter Birnbacher. Es gibt dennoch gute Gründe, am Hirntodkriterium für die Organentnahme festzuhalten. Heute wird der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme "Hirntod und Entscheidung zur Organentnahme" präsentieren.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Die Grenze zwichen Leben und Tod ist nicht klar definiert.

Die Grenze zwichen Leben und Tod ist nicht klar definiert.

© Laz'e-Pete/fotolia.com

BERLIN. Irgendwann weicht sämtliches Leben aus dem Körper, so viel ist jedenfalls klar.

Doch wann genau im Sterbensprozess die Grenze zwischen Leben und Tod irreversibel überschritten wird, ist alles andere als eindeutig.

Und das führt bei der Organentnahme zu einem Dilemma: Nach den bisherigen ethischen Standards muss jemand tot sein, damit ihm Organe entnommen werden können ("dead-donor rule"), nur dann ist der Eingriff ethisch legitimiert.

Doch nach welchen Kriterien soll man den Tod feststellen? Letztlich berufen sich Ärzte hier auf anthropologische Definitionen wie den Hirntod.

Ähnliche wie Embryonen

Dieser lässt sich zwar recht eindeutig feststellen, allerdings: "Unter anthropologischen Gesichtspunkten ist es nicht offenkundig, dass der Hirntod mit dem Tod gleichzusetzen ist", bemerkte der Philosoph Professor Dieter Birnbacher auf der Arbeitstagung Neurologische Intensivmedizin (ANIM) in Berlin.

Das Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer verwies auf die Tatsache, dass wichtige Körperfunktionen des Hirntoten nach wie vor persistierten, auch wenn das Herzkreislaufsystem künstlich am Leben gehalten werden muss.

Man könnte den Tod des Patienten nun zwar damit begründen, dass das, was noch lebt, aus sich heraus nicht lebensfähig ist.

Auch der Verlust des Bewusstseins, an dem letztlich alles klebt, was wir dem Menschsein zuschreiben, ließe sich für eine Todesdefinition heranziehen.

Beide Begründungen seien jedoch problematisch. So haben Feten und Embryonen ebenfalls kein erkennbares Bewusstsein und sind zudem aus sich heraus nicht biologisch lebensfähig, sondern auf die Versorgung durch den maternalen Organismus angewiesen.

Sie befänden sich, so Birnbacher, "strukturell in einer ähnlichen Lage" wie ein Hirntoter. Auch der zeitliche Verlauf - die noch nicht Geborenen einerseits und die Sterbenden andererseits - könnte die anthropologischen Verrenkungen nicht rechtfertigen, die notwendig wären, die einen als bereits lebend und die anderen als schon tot zu bezeichnen.

Eine solche Begründung wäre nicht logisch, sondern asymmetrisch.

Organentnahme bei "Lebenden, wenngleich unausweichlich Sterbenden"

Letztlich handele es sich um einen Konflikt im Überschneidungsbereich von anthropologischen und ethischen Fragen, so Birnbacher, konkret um die "dead-donor rule" und den Hirntod.

Man könnte nun natürlich die ethische Prämisse anpassen und von der "dead-donor rule" abweichen, was einige US-Ethikexperten auch fordern.

Dabei wäre der Tod für die Organentnahme keine Voraussetzung mehr. Der Hirntod könnte zwar weiterhin als Entnahmekriterium fungieren, es würden dann aber "Organe von Lebenden, wenngleich unausweichlich Sterbenden" entnommen.

Ein solches Vorgehen würde das Dilemma zwischen Ethik und Anthropologie auflösen, findet derzeit unter Experten aber kaum Zustimmung.

Zudem würde die Organentnahme bei Lebenden, wenngleich hirntoten, die derzeit ohnehin erschütterte Bereitschaft der Bevölkerung zur Organentnahme weiter unterminieren.

Doch auch der Verzicht auf den Hirntod als ausreichendes Kriterium für den Tod und damit die Organentnahme hätte ethische Implikationen: Es würde dann wohl kaum noch Organspenden von Toten geben.

Eine solche fatale Dichotomie muss jedoch nicht das letzte Wort sein, sagte Birnbacher.

Es seien pragmatische Lösungsansätze gefordert. Ein Weg könnte sein, die anthropologische Todesdefinition anzupassen.

"Manche Fachgesellschaften erwecken zwar den Eindruck, die Definition des Todes über den Ausfall der Hirnfunktion sei Gegenstand naturwissenschaftlicher Erkenntnis und könne sich mit rein wissenschaftlichen Mitteln beurteilen lassen."

Letztlich handele es sich aber um eine mehr oder weniger gut begründete Festlegung.

Der Todesbegriff als Konvention

Danach steht die "dead-donor rule" auch nicht einer wissenschaftlichen Aussage gegenüber, sondern einer im besten Fall gut begründeten, sinnvollen und zweckdienlichen Konvention.

Birnbacher verwies hier auf den Philosophen Hans Jonas, der bereits in den 1970er-Jahren das Hirntodkriterium als "pragmatische Umdefinition des Todes" kritisiert hat.

Der Philosoph hielt die Definition des Todes durch den vollständigen und unumkehrbaren Ausfall der Hirnfunktion für "unsicher".

"Jonas geht damit aber davon aus, dass es so etwas wie eine ‚richtige‘ Definition des Todes gibt." Dies, so Birnbacher, sei kaum der Fall.

"Es geht hier nicht um eine Unsicherheit des Wissens, sondern des Verständnisses."

Wenn schon Anthropologie und Naturwissenschaften keine symmetrischen oder definitiven Todesdefinitionen ermöglichen, so können sie wichtige Kriterien dafür liefern.

Daher, so Birnbacher, spricht vieles dafür, am Hirntod als Definition für den Tod des Menschen festzuhalten, zumindest, wenn es um die Organentnahme geht.

Der Hirntod lässt sich gemäß den Richtlinien der Bundesärztekammer eindeutig feststellen, die Diagnostik ist transparent und insofern sicher, als bislang noch niemand nach einer korrekten Hirntoddiagnostik je wieder sein Bewusstsein erlangt hat.

Wichtig ist eine gut begründete Todesdefinition wie über den Hirntod auch in rechtlicher Hinsicht: Ärzte sollen von der Befürchtung entlastet werden, bei der Organentnahme einen Menschen zu töten.

Birnbacher sprach hier von einer "legal fiction": Entscheidend ist juristisch betrachtet weniger der Aspekt, ob jemand tot ist, sondern vielmehr, ob er als tot gilt.

Irreversibilität versus Endgültigkeit

Wird der Hirntod nun als gut begründete, aber letztlich doch pragmatische Todesdefinition verstanden, bleiben dennoch einige Fallstricke, vor allem bei der Hirntoddiagnostik.

Die fällt in einzelnen Ländern sehr unterschiedlich aus.

In der Schweiz etwa genügt ein indirekter Nachweis: Bleiben Reanimationsversuche nach einem Herzkreislaufstillstand erfolglos, wird zehn Minuten später vom Hirntod ausgegangen - mit der Begründung, dass dann der Ausfall der Hirnfunktion total und irreversibel ist.

Es genügt in diesem Fall eine simple klinische Untersuchung, um den Hirntod festzustellen (Koma, Fehlen von Spontanatmung sowie okulozephaler Reflexe und Reaktionen auf Schmerzreize).

"Zusatzuntersuchungen sind nicht notwendig, da die dokumentierte Pulslosigkeit über einen Zeitraum von zehn Minuten eine genügende Gehirndurchblutung ausschließt", heißt es in der seit 2011 geltenden Richtlinie zur "Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen" der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW).

Dadurch konnte in der Schweiz die Zahl der Organspenden gesteigert werden.

In Deutschland ist die Organentnahme bei solchen "non-heart-beating donors" verboten, ebenso wie der Import von Organen, die von solchen Spendern stammen.

Deutsche Fachgesellschaften haben Zweifel daran, ob nach zehn Minuten Herzkreislaufstillstand das Gehirn wirklich tot ist.

Die Irreversibilität des Hirnausfalls muss in Deutschland daher explizit nachgewiesen werden - über eine erneute klinische Untersuchung Stunden oder gar Tage später oder durch zusätzliche apparativ ermittelte Befunde wie ein Nulllinien-EEG, erloschene evozierte Potenziale oder einen zerebralen Zirkulationsstillstand.

Das Problem beim Schweizer Hirntodverständnis ohne expliziten Irreversibilitätsnachweis: "Es besteht der Verdacht, dass stillschweigend Irreversibilität durch Endgültigkeit ersetzt wurde", sagte Birnbacher.

Der Irreversibilität bezeichne hier die Unmöglichkeit, wie sie nach dem aktuellen Stand der Erkenntnis besteht, die Hirnfunktion wieder herzustellen, die Endgültigkeit hingegen charakterisiere ein Faktum: Wird jemand nicht reanimiert, etwa aufgrund einer Patientenverfügung, ist er endgültig, aber nicht irreversibel tot.

Er könnte ja noch wiederbelebt werden, wird es aber nicht. Der Tod wird dann von ethischen Vorschriften abhängig gemacht, von dem, was wir tun oder nicht tun.

Diese Definition stehe zwar nicht mehr im Konflikt mit der "dead-donor rule", verliere aber ihre anthropologische Legitimation, erläuterte der Philosoph.

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