IQWIG-Jahresbericht
Windeler sieht Rückenwind für Evidenzbasierung
IQWIG-Leiter Professor Jürgen Windeler kritisiert Politiker, die aus seiner Sicht versuchen, den mühsamen Weg der Evidenzorientierung abzukürzen.
Veröffentlicht:Köln. Die Erfahrungen in der Corona-Pandemie könnte der evidenzbasierten Medizin in Deutschland Auftrieb geben, hofft Professor Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
„Wissenschaftliche Expertise ist plötzlich gefragt, und auch wenn viele Entscheidungen ohne solide Evidenz getroffen werden mussten, ist die Aufmerksamkeit für Studienergebnisse – „Evidenz“ – so groß wie seit Langem nicht“, schreibt Windeler im Jahresbericht 2019 des IQWiG.
Windeler schießt gegen „Real-World-Irgendwas“
Mögliche Interventionen würden wie selbstverständlich in vergleichenden, oft randomisierten Studien untersucht, die Anwendung befürwortet oder verworfen, freut er sich. „Real World-Irgendwas“ und Big Data hätten dagegen rein gar nichts geholfen, sondern im Gegenteil: „Zwei hochrangig publizierte Arbeiten, die ihre ‚Erkenntnisse‘ mithilfe künstlicher Intelligenz generiert hatten, mussten rasch wieder zurückgezogen werden.“
Auch wenn bei COVID-19 schnelles Handeln und schnelle Ergebnisse gefragt seien, dürften Qualitätsanforderungen nicht vernachlässigt werden, betont der IQWiG-Chef. „Methodisch schlecht gestützte, erst recht falsche Ergebnisse sind immer noch schädlicher als Nichtwissen.“
Es sei wichtig, qualitativ hochwertige klinische Studien zur Basis von Entscheidungen zu medizinischen Interventionen zu machen. Das Beispiel des Anti-Malaria-Mittels Hydroxychloroquin macht für ihn deutlich, was passiert, wenn man sich nicht an dieses Prinzip hält.
Schelte für den Gesetzgeber
Windeler spart auch nicht mit Kritik am Gesetzgeber. Die Evidenzbasierung sei in jüngster Vergangenheit bei Gesetzesinitiativen vernachlässigt worden. Kein Verständnis hat er dafür, dass Nutzenbewertungen ohne Vergleiche praktiziert werden sollten und sogar Anwendungsbeobachtungen den Weg in einen Gesetzentwurf gefunden hätten.
„Es scheint die Idee vorzuherrschen, wenn alles nur schnell gehe, dann werde es auch gut.“ Der IQWiG-Chef kann die Entscheidung nicht nachvollziehen, mögliche positive Versorgungseffekte von digitalen Gesundheitsanwendungen durch das BfArM bewerten zu lassen, weil das bisherige Nutzenbewertungsverfahren zu lange dauere.
Auch wenn man Kritik an der Dauer der Verfahren im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) ernst nehme: „Qualität und Wirtschaftlichkeit des GKV-Systems können nur gewahrt bleiben, wenn Schnelligkeit nicht zulasten sorgfältiger Bewertung geht“, schreibt Windeler der Politik ins Stammbuch.
Über 100 Aufträge des GBA zur Nutzenbewertung
Im vergangenen Jahr hat das Kölner Institut mehr als 100 Aufträge des GBA zur Nutzenbewertung neuer Wirkstoffe bearbeitet. So viele Bewertungen musste das Institut noch nie in einem Jahr erstellen. Das hohe Arbeitsvolumen ist ein Grund dafür, dass das zuständige Ressort Arzneimittel in drei Bereiche aufgeteilt wurde: Onkologie (solide Tumoren), Hämato-Onkologie und Infektiologie sowie Chronische Erkrankungen.
Die IQWiG-Mitarbeiter erstellten 2019 insgesamt 73 Dossierbewertungen und 33 Addenda zur Prüfung zusätzlicher Unterlagen, die nach der Dossierbewertung eingegangen sind. Bei 47 Bewertungen der Hersteller-Dossiers konnte das IQWiG keinen Beleg für einen Zusatznutzen finden. In fünf Fällen wurde der Zusatznutzen als erheblich eingestuft, in acht als beträchtlich und in sechs als gering. Bei fünf Wirkstoffen war der Zusatznutzen nicht quantifizierbar, bei zwei war der Nutzen geringer als der der zweckmäßigen Vergleichstherapie.
Wachsendes Interesse an Gesundheitsinformationen
Das Ressort „Versorgung und Gesundheitsökonomie“ hat darüber hinaus 14 Dossiers zu Orphan Drugs gegen seltene Erkrankungen bewertet. Bei ihnen gilt der Zusatznutzen beim Markteintritt als belegt. Aufgabe des IQWiG ist es, die Größe der Zielpopulation in der GKV und die Therapiekosten zu bewerten.
Das Institut registriert ein stark steigendes Interesse an seinen evidenzbasierten Gesundheitsinformationen. Die Webseite gesundheitsinformationen.de zählte im vergangenen Jahr im Schnitt 2,6 Millionen Besucher pro Monat.
Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums hatte das Institut ein Konzept für das nationale Gesundheitsportal erarbeitet, das am 1. September online gegangen ist. Neben ihm liefern das Deutsche Krebsinformationszentrum und das Robert Koch-Institut dafür die Inhalte. Das Kölner Institut beschäftigt insgesamt 240 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Haushaltsvolumen für 2020 beträgt 26,5 Millionen Euro.