Kassenbeiträge
Knatsch in der Koalition
Ein Rechenmodell hat den Wahlkampf in der Gesundheitspolitik ausgelöst. Im Raum stehen Zusatzbeiträge von bis zu 2,6 Prozent. SPD-Chef Gabriel fordert nun die Rückkehr zur Beitragsparität. Minister Gröhe warnt vor Panikmache.
Veröffentlicht:BERLIN. Die SPD hat den Wahlkampf in der Gesundheitspolitik eröffnet. Parteichef Sigmar Gabriel hat in einem Zeitungsinterview die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Kassenbeiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer gefordert. Die Zusatzbeiträge schließt er in seiner Äußerung ausdrücklich mit ein.
Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Professor Karl Lauterbach, stützte den Parteichef. Es sei ungerecht, dass die Arbeitnehmer jetzt alle Kostensteigerungen im Gesundheitswesen alleine tragen. Lauterbach ist als Gesundheitspolitiker und Mitautor des Koalitionsvertrags an den Kostensteigerungen maßgeblich beteiligt.
Der Finanzdienstleister MLP schätzt die Mehrkosten der von der großen Koalition angestoßenen Reformen auf rund 40 Milliarden Euro bis 2020.
Kassen künstlich knapp gehalten?
"Ärzte Zeitung" #unterwegsmitGröhe
Am zweiten Tag der Sommerreise besucht der Minister eine Frankfurter Kita und ein einmaliges Modellprojekt zur Versorgung von Flüchtlingen in Darmstadt.
Die "Ärzte Zeitung" twittert wieder von der Reise: #unterwegsmitGröhe.
In Kassenkreisen wird derweil darüber spekuliert, ob die Politik die Kassen nicht sogar künstlich knapp halte, um die Beitragserhöhungen zu provozieren.
Es fließe Geld in den Aufbau von Rücklagen im Gesundheitsfonds, das die Kassen eigentlich für die Versorgung bräuchten. Davon zeigt sich der Vorstandsvorsitzende der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) Ingo Kailuweit überzeugt.
Der Beitrag werde zum Beispiel künstlich erhöht, weil der Schätzerkreis die Zahl der Versicherten seit Jahren um etwa 300.000 zu gering ansetze und somit zu wenig Geld für die Versorgung zur Verfügung stehe. "Eigentlich müsste es am Jahresende eine Endabrechnung über die Zahl der Versicherten geben", sagte Kailuweit der "Ärzte Zeitung".
Die Union indes will Warnungen über die Beitragsentwicklung die Spitze nehmen. "Das Thema ist für die Unionsfraktion erst im Oktober relevant, wenn der Schätzerkreis zusammentritt", erklärte Maria Michalk, gesundheitspolitische Sprecherin der Unionsfraktion.
Auf Prognosen wie die des Duisburger Gesundheitsökonomen Professor Jürgen Wasem reagierte Michalk pikiert. Die Berechnungen beruhten "auf allgemeinen Annahmen", erklärte sie vage. Derzeit seien Spekulationen über die Beitragssatzentwicklung "nicht angebracht", da sie die Versicherten nur "unnötig verunsichern".
Gröhe gibt von Sommerreise aus Auskunft
Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) meldete sich von seiner Sommerreise zu Wort. "Wer bereits ein Jahr vor der Wahl auf Wahlkampf-Modus schaltet, tut sich und seiner Partei keinen Gefallen", sagte Gröhe. Die von "übertriebener Spekulation und Panikmache" getriebenen Prognosen, die einige Medien aufgegriffen hätten, überstiegen bei weitem seine eigene Einschätzung und die des GKV-Spitzenverbands, sagte Gröhe.
Auch die Opposition warf Gabriel Wahltaktik vor.
Eine Mehrheit gegen die Union und für die Parität wäre möglich, sagte Linken-Politiker Harald Weinberg am Mittwoch in Berlin. Bereits bei der Verabschiedung des FQWG im Mai 2014 hatte die grüne Gesundheitspolitikerin Maria Klein-Schmeink der Koalition einen "Systemwechsel" in der GKV-Finanzierung vorgeworfen – mit der Folge, dass "in Zukunft ausschließlich die Versicherten den Kostenanstieg im Gesundheitswesen tragen sollen".
Wasem hat bis einschließlich 2020 in drei Szenarien die Einnahmen- und Ausgabenentwicklung gegenübergestellt. In einer pessimistischen Variante geht Wasem davon aus, dass die GKV-Ausgaben von rund 220 Milliarden auf bis zu 279 Milliarden Euro im Jahr 2020 steigen könnten.
Dem würden im gleichen Jahr Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen von 239,2 Milliarden Euro entgegenstehen. Der Differenzbetrag - knapp 40 Milliarden Euro - müsste demnach allein von den GKV-Mitgliedern finanziert werden. Unterstellt ist bei diesem Szenario, dass die Grundsätze der GKV-Finanzierung, wie sie 2014 von der Koalition beschlossen wurden, unverändert fortgelten: ein fixer Beitragssatz für die Arbeitgeber in Höhe von 7,3 Prozent.
Arbeitgeberseite sei überproportional beteiligt durch Lohnfortzahlungen
Die Arbeitgeberseite merkt in der Debatte regelmäßig an, dass sich die Arbeitgeber durch ihre Beteiligung an der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bereits überproportional an den Krankheitskosten beteiligten. 2014 hätten sie dafür 51 Milliarden Euro ausgegeben, was rund 4,3 Beitragspunkten entsprochen hätte, heißt es in einem Papier des Arbeitgeberverbandes BDA.
Die Sprengkraft des "GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetzes" (FQWG) zeigt sich erst auf lange Sicht: Im laufenden Jahr müssen die GKV-Mitglieder rund 14,4 Milliarden Euro über Zusatzbeträge allein aus der eigenen Tasche zahlen. Im kommenden Jahr werden es der Wasem-Prognose zufolge rund 17,3 Milliarden, 2018 dann schon 24,2 Milliarden Euro sein.
Michalk hingegen setzt allein auf den Schätzerkreis beim Bundesversicherungsamt. Dieser wird im Oktober den Finanzbedarf für 2017 bestimmen - daraus wird dann der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz für das kommende Jahr abgeleitet.
Die von Wasem auf Basis seiner Szenarien abgeleiteten Zusatzbeiträge sind eindrucksvoll: Sie würden sich im Vergleich zum Stand 2016 (1,1 Prozent) bis 2020 mehr als verdoppeln: auf 2,4 Prozent, im pessimistischen Szenario sogar auf 2,6 Prozent.