Großbritannien
Labour denkt laut über Abschaffung des Primärarztsystems nach
Die Labour Party, die gute Chancen hat, bei der nächsten Wahl die Regierung zu übernehmen, will die hausärztliche Versorgung reformieren. Sogar von einer Beschneidung unternehmerischer Autonomie der Praxisinhaber ist die Rede.
Veröffentlicht:London. Kommt bald das Ende für tausende traditionelle britische Hausarztpraxen? Durchaus möglich, sollte Labour die für 2024 erwarteten nächsten Unterhauswahlen gewinnen. Die Partei, die in Meinungsumfragen derzeit um mehr als 20 Prozent vor den regierenden Konservativen liegt, möchte das staatliche Primärarztsystem mehr oder weniger abschaffen.
Der gesundheitspolitische Sprecher Labours, Wes Streeting, hatte kürzlich mit Äußerungen für Furore gesorgt, das derzeitige Primärarztsystem des staatlichen britischen Gesundheitsdienstes (NHS) sei „überholt“ und „dringend reformbedürftig“.
„Alles auf den Prüfstand“
Sollte Labour wie erwartet die kommenden Unterhauswahlen gewinnen, so ist laut Wesling „eine grundlegende Erneuerung“ des gesamten hausärztliche Sektors geplant. „Alles“ müsse auf den Prüfstand darunter auch das Prinzip, daß der Zugang zu Fachärzten und zum stationären Sektor in jedem Fall stets über den Hausarzt erfolgt. Dieses Prinzip ist den Briten bislang heilig.
Laut Labour soll es Patientinnen und Patienten zukünftig möglich sein, den Gang in die Hausarztpraxis ganz zu vermeiden und stattdessen direkt zum Facharzt zu gehen. Die ärztlichen und hausärztlichen Berufsverbände lehnen dies mehrheitlich ab. Es werde die Patientenversorgung nicht verbessern und zudem Milliarden an Steuermitteln verschlingen, so der größte britische Medizinerverband (British Medical Association, BMA).
Allerdings gibt es im britischen Hausarztsektor auch Stimmen, die eine langsame Aufweichung des bislang sehr starren Primärarztprinzips begrüßen. So sagte die ehemalige Vorsitzende des Hausarztverbandes (Royal College of General Practitioners, RCGP), Dame Claire Gerada, es spreche „im Prinzip nichts dagegen“, wenn Patientinnen und Patienten „in bestimmten Fällen“ statt zum Hausarzt gleich direkt zum Facharzt gehen könnten.
Entlastung für Hausärzte?
Dies würde zum einen die Hausärztinnen und Hausärzte, die ohnehin chronisch überarbeitet und überlastet sind, entlasten. Zum anderen bedeute es kürzere Wege für die Patienten. „Wenn eine Patientin zum Beispiel einen Knoten in ihrer Brust ertastet, warum soll sie dann nicht gleich direkt zum Onkologen gehen“, so Dame Claire.
Ein anderer ebenfalls geradezu revolutionär anmutender Vorschlag Labours ist, NHS-Hausärzte statt wie bisher als teils freie Unternehmer wirtschaften zu lassen, die ihre Leistungen an den NHS verkaufen, diese zukünftig mit einem festen Staatsgehalt zu versorgen.
Praktisch käme das einer 100-prozentigen Verstaatlichung der Primärarztpraxen gleich. Bisherige unternehmerische Freiheiten der Hausärzte würden dadurch abgeschafft. Das wird von der Ärzteschaft geschlossen abgelehnt. Angesichts der guten Wahlaussichten für Labour herrscht innerhalb der britischen Ärzteschaft derzeit erhebliche Nervosität.