Interview
Lutz Hager, BMC: „Die Bedingungen halten auf, anstatt zu motivieren“
Der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands Managed Care, Professor Lutz Hager, warnt vor einer Kultur des Misstrauens – und der Tendenz, alte Versorgungsstrukturen in die Zukunft zu projizieren.
Veröffentlicht:Herr Professor Hager, „Weichen für die Gesundheitswende stellen“ steht über dem BMC-Kongress 2024. Was verstehen Sie unter Gesundheitswende?
Eines ist zur Mitte der Legislaturperiode klar: Das Tor für weitreichende Strukturreformen in der Gesundheitsversorgung ist durchschritten. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie – und Wann.Trotz aller Schwierigkeiten in der Gesetzgebung: Das ist ein gutes Vorzeichen für das Jahr 2024. Diese Chance müssen wirim Gesundheitswesen ergreifen. Es kann ja nicht so bleiben, wie es ist.
Und jetzt kommt die Gesundheitswende ins Spiel?
Wir brauchen Orientierungspunkte dafür, wie wir unser Gesundheitssystem organisieren wollen. Wir stellen jetzt die Weichenfür die Mitte des Jahrhunderts und für ein Gesundheitssystem als einem starken Pfeiler unseres Gesellschaftsvertrages. Die Zeiten sind krisenhaft genug, im Gesundheitswesen haben wir es gemeinsam in der Hand, die Aufgaben zu lösen – und müssen das auch. Gesundheitswende in drei Überschriften ist: Von einer Kurzzeit- zu einer Langzeitperspektive kommen, Geschäftsmodelle ermöglichen, die mit Gesundheit funktionieren und ein Gesundheitswesen schaffen, dasfür die Menschen arbeitet, also patienten-, menschen- und mitarbeiterzentriert ist.
Der Staat kann nicht so viel Geld ausgeben, wie er möchte – im Gegenteil, er beschränkt sich mit der Schuldenbremse. Kann das eine Chance für das Gesundheitswesen sein, mit weniger Geld auskommen zu müssen?
Knappheit ist eine Chance, weil wir gezwungen werden, die vorhandenen Mittel besser zu nutzen. International liegt unser Problem nicht in niedrigen Ausgaben, sondern in mittelmäßigen bis schlechten Ergebnissen. Deutschland hat im westeuropäischen Vergleich eine der niedrigsten Lebenserwartungen. Und das, obwohl wir ähnliche und bessere Lebensbedingungen haben. Geht man diesem Rätsel auf den Grund, erkennt man zum Beispiel eine höhere kardiovaskuläre Sterblichkeit in bestimmten Altersgruppen. Unser Gesundheitswesen geht mit diesen Risiken nicht gut um. Es hat sich über Jahre Veränderungs- und Reformbedarf aufgebaut.Professor Lutz Hager
- Professor für Management im Gesundheitswesen an der SRH Fernhochschule, Riedlingen, seit 2021.
- Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care, seit April 2022.
- Berufliche Stationen als Geschäftsführer der IKK Südwest (2011 - 2019) und als Unternehmensberater bei McKinsey&Co (2005 - 2011).
- Hager hat in Göttingen, Paris und in USA Politik, Sozialwissenschaften und Philosophie studiert.
Knappheit setzt Kreativität frei? Sehen Sie bereits schöpferische Kräfte wirken im Gesundheitswesen?
Das Gesundheitswesen ist reaktionsstark, das haben wir in der Pandemie eindrucksvoll gesehen – und das zeigt auch der BMC-Kongress, der in diesem Jahr vielfältiger und innovationsstärker denn je ist. Digitale Lösungen und Versorgung wachsen an vielen Stellen zusammen, weil die Akteure aufeinander zugehen.
Nur: Die Rahmenbedingungen halten uns auf, anstatt dass sie uns motivieren. Es scheint fast so, als ob Innovation im Gesundheitswesen ein persönlicher Leidensweg sein muss. Aber das Gegenteil sollte der Fall sein.
Um mit dem Wirtschaftstheoretiker Joseph Schumpeter zu sprechen, muss etwas zerstört werden, um Neues zu schaffen. Er bezeichnet das als schöpferischen Prozess. Stünde dafür etwas aus dem Gesundheitswesen auf Ihrer Liste?
Zerstörung ist kein guter Begriff im Gesundheitswesen. Gesundheitsversorgung ist immer Teamplay; niemand hält die ganzen Versorgungs- und Wertschöpfungsketten in einer Hand – und diese gehen übrigens auch weit über das Gesundheitswesen hinaus. Unser Wissen um die Einflussgrößen für ein langes Leben in guter Gesundheit ist rapide gewachsen. Medizinische Interventionen machen nur zu einem kleinen Teil die Gesundheit der Bevölkerung aus, viel bedeutendere Treiber sind soziales Umfeld, Lebensstil und Gesundheitskompetenz. Wir müssen Gesundheitsversorgung anders und auch in Partnerschaften außerhalb des klassischen Gesundheitswesens denken – und entsprechend umbauen.
Wo müsste etwas umgebaut werden?
Die Krankenhausversorgung ist sicher eines der offensichtlichsten Felder. Worüber in der Reformdebatte aber zu wenig gesprochen wird, sind Geschäftsmodelle, die Anreize für mehr Gesundheit schaffen. Dazu gehören vermehrt Ansätze von Value-based-health-care. Nicht nur die stationäre Behandlung, sondern auch deren Vermeidung sollte Teil des Geschäftsmodells von Krankenhäusern werden. Populationsbasierte Vergütung, die Kliniken miteinbezieht oder Hospital-at home-Angebote sind hier beispielsweise zwei Stellschrauben.
Noch einmal zurück zum Geld: Um die Ressourcen konkurrieren die Klinikreform und die Entbudgetierung der Hausärzte. Aber wo bleibt das Syntheseprojekt einer intersektoralen Versorgung?
Wir haben eine natürliche Tendenz, in der Vorstellung von Zukunft an den gegenwärtigen Strukturen festzuhalten und die alten Kämpfe immer wieder zu kämpfen. Davon sollten wir uns lösen. Ein großer und hitziger Teil der politischen Diskussion erschöpft sich in Instrumenten, die aus einer anderen Zeit stammen. Lahnstein liegt über 30 Jahre zurück, die sektoralen und berufsständischen Mauern sind noch viel älter. Stattdessen sollten wir darauf schauen, wie andere Ländermit anderen Instrumenten in die Zukunft gehen. International sind Primärversorgungssysteme, die Verbindung von medizinischer und pflegerischer Versorgung und das Einbeziehen der sozialen Determinanten von Gesundheit prägende Themen. Instrumente und Anreize der Kooperation und Koordinierung sind daher Schlüsselpunkte.
Das hören wir aus der Politik aber auch schon lange.
Ja – und dann wachsen die Vorstellungen in den Köpfen zu Gesetzesfantasien, weil man glaubt, es gäbe die eine Lösung für alles und alle. Dadurch wird es vor allem unlösbar. Es geht nicht um den einen großen Wurf, sondern darum, dass wir Freiheiten für die Akteure schaffen, um unsendlich den größten, täglich erlebbaren Schwachstellen zuzuwenden. Ich setze auf Selbstorganisation im Gesundheitswesen.
Die will die Ampel mit den Gesundheitsregionen ja auch anschieben.
Die zeitgemäße Umsetzung von Selbstorganisation heißt für mich Regionalisierung mit regionalen Versorgungsverbünden und -verträgen. Dort kommt der Mehrwert digitaler Lösungen zum Tragen, dort müssen die Herausforderungen in der Notfallversorgung, die Versorgung chronischer sowie psychischer Erkrankungen, der Unterversorgung vulnerabler Gruppen, die Früherkennung, die Impfbereitschaft, die Altenpflege, die Prävention und vieles mehr gelöst werden. Was ich aufgezählt habe, lässt sich nur jeweils vor Ort zusammenführen und zwar von denen, die vor Ort die Mängel unseres Systems tagtäglich erleben und das verändern wollen
Was genau verstehen Sie unter Regionalisierung?
Ich denke da nicht in Verwaltungseinheiten, sondern in Versorgungszusammenhängen. Die können sich im Übrigen auch überlappen, so wie es bei Tarifgebieten im Nahverkehr ja auch sein kann. Aber gerade weil Koordinierung der Schlüsselpunkt ist, müssen wir Freiräume dorthin verlagern, wo diese Koordinierung stattfindet. Wenn eine Reform in dieser Legislaturperiode richtungsweisend sein kann, dann das Instrument der regionalen Versorgungsverträge. Der vorliegende Gesetzestextentwurf umfasst das zwar, hat aber aus meiner Sicht noch gravierende Mängel.
Sie haben den Umbau der Krankenhausversorgung angesprochen. Das Projekt hängt, weil das Krankenhaustransparenzgesetz im Vermittlungsausschuss verhandelt wird. Ist die Krankenhausfinanzierungsreform noch zu retten?
Ich bin ernüchtert, weil ich die Sorge hege, dass wir am Fliegenfänger einer politischen Großvorstellung von Entökonomisierung und Generalplanung hängen.
Schlimmer noch konzentrieren sich alle Energien nun auf ein Thema, das, wie der Name schon sagt, sehr eng geführt ist.Der Wechsel des Vergütungssystems ist ein viel zu sensibler Bereich, als dass wir uns dort auf Experimente einlassen sollten. Er dauert auch zu lange und wird Unsicherheiten, Bürokratie und neue Verwerfungen produzieren.Denken Sie an die Einführungsschmerzen des DRG-Systems zurück. Die Reform muss sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und das ist für mich die Schwerpunktbildung bei Indikationen. Dieses Ziel erreichen wir besser über regionale Zusammenarbeit wie beschrieben; Gleiches gilt für Anreize zur Vermeidung stationärer Eingriffe.
Es ist doch paradox: Damit die Reform zustande kommt wie vom Gesundheitsminister gewünscht, fordern die Länder im Ausgleich, über die Landesbasisfallwerte die DRG-Vergütungen anzuheben und bestärken die Häuser im „Weiter so“. Dabei ist die Landschaft ja längst in Bewegung, Beispiele dafür werden wir auf dem BMC-Kongress diskutieren.
Niedergelassene Hausärzte sollen vom Budgetdeckel befreit werden, Fachärzte hingegen nicht, auch nicht die grundversorgenden Fachärzte. Inwiefern werden damit Grenzen zementiert?
Wir müssen uns auf ein gemeinsames Zielbild verständigen, statt dass jeder an seinem Ende weiter Forderungen aufbaut. Die Politik fördert aber genau Letzteres, indem sie separate Gesprächskreise eröffnet. Wenn man, wie angesprochen, eher in einem Primärversorgungssystem denkt, dann schließt das große Teile der Fachärzte natürlich mit ein, aber auch viele weitere Gesundheitsberufe. Ich unterstütze daher die Forderung der Fachärzte, Leistungen, die auf Überweisung stattfinden, von der Budgetierung auszunehmen. So nähern wir uns Primärversorgungsvergütungen, die im Miteinander erwirtschaftet werden.
Könnten die ursprünglich als Level-1i-Krankenhäuser in die Diskussion eingeführten Versorgungseinheiten intersektorale Vergütungsansätze erproben, über die Hybrid-DRG hinaus?
Wir sind im Gesundheitswesen vielerorts auf der Suche nach neuen Organisationseinheiten und Betriebsformen, die zwischen der niedergelassenen Praxis und dem Krankenhaus liegen oder die Verbindung zum sozialräumlichen Kontext herstellen – ich meine Gesundheitskioske – oder noch andere Aufgaben erfüllen. Auch hier dürfen wir nicht den Fehler machen, eine neue kleine Box zu zeichnen, in die die Wirklichkeit hineinpassen muss. Entscheidend ist, dass Bedarfe abgedeckt werden; dies kann zentral, dezentral, am Ort, digital oder hybrid und in der Verbindung verschiedener Leistungen sein. Daraus entstehen neue Organisationen mit Mischfinanzierungen.
Dabei können kurzstationäre Betten ein zusätzliches Element sein genauso wie besondere Koordinationsbedarfe, die das GVSG für Primärversorgungszentren vorsieht.Verstehe ich richtig, dass Gesundheitswende mehr ist als Gesundheitspolitik?
Gesundheit ist eine Größe, die alles überragt und alle betrifft und daher eine besondere Kraft hat, Menschen zu verbinden. Anthropologen stellen die Fürsorge für Kranke an den Beginn sozialer Evolution. Daher schmerzt es besonders, wenn wir feststellen, dass wir trotz und gerade aufgrund aller Anstrengungen kollektiv Ergebnisse sehen, die niemand will oder gewollt hat.Gesundheitsversorgung der Zukunft hat sicherlich technokratische Erfordernisse, aber die kulturellen überwiegen. Hierarchien, Mikromanagement und überbordende Kontrolle schaffen eine Kultur des Misstrauens. Diese verstärkt sich noch, je mehr wir uns in Krisenrhetorik verfangen.
Gesundheitswende heißt daher auch, dass wir alle über unsere professionellen Rollen hinaus einen Schritt machen, um uns auf ein gemeinsames Zielbild – mehr Gesundheit– zuzubewegen. Wir können auf die starke Motivation der im Gesundheitswesen Tätigen vertrauen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Hager!