Muslime beim Arzt

Medizin - eine kulturfreie Zone?

Millionen Muslime leben in Deutschland. Wenn sie zum deutschen Arzt gehen, prallen manchmal Welten aufeinander. Welche Missverständnisse kultureller Art es gibt und wie sie sich vermeiden lassen, erklärt Medizinethiker Prof. Dr. Dr. Ilhan Ilkilic im Interview mit der "Ärzte Zeitung".

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Wenn es um Heilung geht, präferieren Muslime maximal mögliche Medizin.

Wenn es um Heilung geht, präferieren Muslime maximal mögliche Medizin.

© Jasmin Merdan / fotolia.com

Ärzte Zeitung: Herr Professor Ilkilic, gehört der Islam zu Deutschland?

Prof. Dr. Ilhan Ilkilic

Medizin - eine kulturfreie Zone?

© privat

Position: Professor für Medizingeschichte und Ethik Uni Istanbul; Mitglied im Deutschen Ethikrat.

Ausbildung: Studium der Medizin, Philosophie und Islamwissenschaft in Istanbul, Bochum und Tübingen.

Karriere: Gastdozent an US-Universitäten; wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Tübingen, Bochum und Mainz.

Prof. Ilhan Ilkilic: Ethiker müssen realistisch sein. Deshalb sage ich: Wenn vier Millionen Muslime in Deutschland leben, wäre es absurd zu behaupten, dass der Islam nicht zu Deutschland gehören würde. Wir reden von fünf Prozent der Bevölkerung, Tendenz steigend.

Die Frage ist: Welchen Raum hat kulturelle Praxis der Muslime in dieser Gesellschaft? Wie sieht eine soziale Anerkennung und ein gelungenes Zusammenleben aus? Diese haben auch mit medizinethischen Fragen zu tun.

Welche Fragen meinen Sie?

Ilkilic: In der Medizinethik, wo es um existenzielle Fragen geht, müssen wir uns fragen, inwiefern unterschiedliche kulturelle und religiöse Überzeugungen in diesen Debatten ihren Platz haben können.

Zum Beispiel?

Ilkilic: Zum Beispiel Organtransplantation. Muslimische Rechtsgelehrte sind in ihrer Mehrheit der Meinung, dass Transplantationen an sich kein Problem sind. Im Gegenteil: Sie gelten als die heiligste Spende, die man einem anderen Menschen spenden kann. Bei der Frage des Hirntodes sieht es aber anders aus.

Weil man nicht technisch messen kann, wann nach islamischer Überzeugung die Seele den Körper verlassen hat, gibt es verschiedene Meinungen zum Todeszeitpunkt des Menschen. Für manche ist der Hirntod ein Zwischenstadium, für andere der endgültige Tod.

Die letzte Auffassung wird häufiger in der islamischen Welt vertreten. Aber in der Praxis sind viele Muslime immer noch skeptisch.

Warum?

Ilkilic: Der Tod des Bewusstseins gilt nicht unbedingt als entscheidendes Kriterium für den Tod. Das Herz ist für viele viel entscheidender als das Hirn. Wenn das Herz pocht, sei der Mensch noch nicht tot.

So akzeptieren in der Türkei viel weniger Menschen als in Deutschland die Hirntodfeststellung als Kriterium.

Drei bis fünf von 100.000 Einwohner sind in der Türkei bereit, nach Hirntod-Diagnose ihre Organe zu spenden. Aber: Wenn es um eine Organspende an einen Familienangehörigen geht, dann ist die Türkei gleichwohl Weltspitze.

Da sind auch die muslimischen Gemeinden in der Pflicht, ein Netz zu knüpfen und eine Infrastruktur zu bauen, um Familienangehörige etwa von hirntoten Muslimen zu beraten und ihre Mitglieder über die theologischen Dimensionen dieser Themen aufzuklären.

Welche Konflikte gib es im medizinischen, ärztlichen Alltag?

Ilkilic: Es gibt ja sehr säkulare und sehr religiöse Muslime. Wenn ein religiöser Muslim eine Entscheidung treffen soll, dann wird er der Empfehlung des Arztes folgen, denn er steht als Geschöpf in Verantwortung für seine Gesundheit.

Anders ist es etwa bei palliativen Operationen. Hier muss er nicht unbedingt dem Arzt folgen, weil die Palliativbehandlung ja nicht zur Heilung führt.

Wir sehen hier bei Muslimen und ihren Angehörigen oft auch ein soziales Problem: Studien zeigen, dass Muslime signifikant häufiger für eine maximale Therapie sind und gegen eine Therapiebegrenzung. Denn manche Muslime fürchten, die deutschen Ärzte wollten mit der Palliativbehandlung an ihnen Geld sparen.

Das ist natürlich ein Vorurteil, aber man muss es ernst nehmen und diese Menschen über diese Themen informieren. Manche muslimische Patienten und ihre Angehörigen lehnen einen Therapiebegrenzungsvorschlag des Arztes auch mit theologischen Argumenten ab.

Wie können Ärzte mit solchen Konflikten umgehen?

Ilkilic: Zunächst sind Konflikte kein Zeichen von Desintegration. Wie bei den Zeugen Jehovas, die manche Behandlungen ablehnen, sollte man auch die Entscheidungen von Muslimen ernst nehmen.

Allerdings sind viele Muslime oft nicht angemessen und ausreichend aufgeklärt. Zum Beispiel fasten viele muslimische Diabetiker im Ramadan.

Wenn diese Patienten von einem Arzt und gegebenenfalls Imam angemessen aufgeklärt worden wären, dann hätten sie anders reagiert. Da die Gesunderhaltung auch für Muslime eine religiöse Pflicht ist, hätten die sich gegen Fasten entschieden.

Es gibt auch in der muslimischen Religionspraxis die Möglichkeit, Armen zu spenden, wenn jemand gesundheitlich nicht in der Lage ist, zu fasten. Der Muslim sollte die erforderlichen medizinischen und theologischen Kenntnisse haben, um eine nach seinem Weltbild angemessene Entscheidung zu treffen, was wir "informed consent" nennen.

Sollten Ärzte im Zweifel also einen Imam zu Rate ziehen?

Ilkilic: Ein muslimischer Palliativpatient und seine Familie hatten einmal über eine palliative Sedierung des Patienten zu entscheiden.

Der Patient wollte aber zuvor mit einem Imam sprechen. Das Gespräch hat stattgefunden, und am Ende hat sich der Patient für eine palliative Sedierung entschieden.

Wenn der Wunsch vom Patienten nach einem Gespräch kommt, dann soll man versuchen, im Rahmen der Möglichkeiten diese zu realisieren. Ethisch ist es nicht rechtfertigbar, ein solches Gespräch von außen aufzuzwingen.

Wie integriert ist aus Ihrer Sicht die muslimische Perspektive in das deutsche Gesundheitssystem?

Ilkilic: In der Mediziner-Ausbildung ist das Wort Kultur - abgesehen von einigen wenigen Projekten - kaum ein Thema. Wenn ich in Berlin Mediziner ausbilde, die später vielleicht im Kreuzberg arbeiten werden und das Thema Kultur in den Vorlesungen nicht einmal gehört haben, dann ist diese Situation ein Skandal.

Es gibt auch im Bereich der Altenpflege und Seniorenheime große Versorgungslücken. Ich bin dagegen, "medizinische Ghettos" zu bilden. Wir brauchen also keine Krankenhäuser für Muslime, Juden und Christen.

Wir brauchen vielmehr Ausbildungskonzepte für unsere Gesundheitsberufe, die mit Patienten aus allen Kulturkreisen und Religionen gut umgehen können.

Lesen Sie dazu auch: Gynäkologie: "Versorgungssituation für Migrantinnen ist eine Katastrophe"

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