Interview

„Pflegebedarf kommt oft plötzlich auf Angehörige zu“

Pflegende Angehörige leisten eine Herkulesaufgabe – angemessen gewürdigt wird das bislang nicht, kritisiert die Vorstandsvorsitzende des Vereins „Allianz pflegende Angehörige“, Dr. Hanneli Döhner. Auch Hausarztpraxen müssten mehr tun.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Wirbt dafür, den Einsatz pflegender Angehöriger mehr zu würdigen: Dr. Hanneli Döhner.

Wirbt dafür, den Einsatz pflegender Angehöriger mehr zu würdigen: Dr. Hanneli Döhner.

© privat

Berlin. Am 6. Oktober findet erstmals der „Europäische Tag der pflegenden Angehörigen“ statt. Mit dem Aktionstag will die „European organisation working with and for informal carers“ (Eurocarers) auf die Situation von pflegenden Angehörigen aufmerksam machen.

Gewürdigt wird die Leistung der pflegenden Angehörigen nicht ausreichend, betont Dr. Hanneli Döhner, Vorstandsvorsitzende des Vereins „Allianz pflegende Angehörige“, im Interview der „Ärzte Zeitung“.

Ärzte Zeitung: Frau Dr. Döhner, pflegende Angehörige stellen Deutschlands größten Pflegedienst – ohne Entgelt. Findet das ausreichend Würdigung?

Dr. Hanneli Döhner: Nein! Die Corona-Pandemie hat das noch mal verstärkt gezeigt. Die Politik konzentriert sich auf beruflich Pflegende. Sie wurden vorzugsweise mit Schutzmasken und Desinfektionsmitteln ausgestattet. Das ist natürlich richtig.

Aber pflegende Angehörige wurden lange Zeit ignoriert. Dabei waren gerade sie durch den Wegfall von Pflegediensten, Tagespflege-Angeboten, Physiotherapeuten hoch und höher belastet. Wir reden hier über die sehr große und heterogene Gruppe von Pflegenden, die auch Kinder und Jugendliche umfasst. Das wird oft vergessen.

Wo drückt die pflegenden Angehörigen der Schuh am meisten?

Es gibt viele Themen. Besonders groß ist die Sorge: Was passiert, wenn ich als Angehöriger ausfalle? Wer springt für mich ein? Muss das geliebte Familienmitglied dann doch in ein Heim? Wir erleben häufig, dass Pflegedienste Anfragen von Angehörigen ablehnen, weil Personal fehlt. Der professionelle Pflegenotstand ist längst an der Basis angekommen.

Auch das Armutsrisiko spielt eine bedeutende Rolle. Viele müssen ihre berufliche Tätigkeit kürzen oder aufgeben, um die Pflegeaufgabe stemmen zu können. Sie brauchen dringend einen finanziellen Ausgleich für ihre Arbeit. Die paar Punkte, die bei der Rente dafür angerechnet werden, reichen nicht.

Was tut außerdem not?

Der Pflegebedarf kommt oft plötzlich auf Angehörige zu. Damit sie nicht an körperliche und seelische Grenzen geraten, sind Gesundheitsförderung und Präventions- und Reha-Angebote stärker auf diese hoch belastete Gruppe zuzuschneiden. Es gibt zwar Ansätze, aber es braucht mehr flächendeckende Angebote, die altersgerecht und an die spezifische Pflegesituation angepasst sind.

Welche Rolle spielen Hausärzte in diesem Zusammenhang?

Eine wichtige! Aber nicht nur der Hausarzt, sondern das ganze Praxisteam muss seinen Blick erweitern – vom pflegebedürftigen Patienten hin zu den pflegenden Angehörigen. Sie müssen wissen, welche entlastenden Möglichkeiten es gibt und ihre Lotsenfunktion stärker wahrnehmen. Ich höre von vielen Angehörigen, dass sie sich diesbezüglich mehr Verständnis und Engagement wünschen.

Und was sagen die Ärzte dazu?

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin etwa betont in einer Leitlinie zu pflegenden Angehörigen: „Pflege kann nur gut gehen, wenn es den Pflegenden selbst gut geht“. Die Leitlinie enthält gute Vorschläge, was Ärzte dazu beitragen können. Aber die Umsetzung fehlt. Das liegt natürlich auch daran, dass diese Leistungen bislang nicht hinreichend honoriert werden. Hier kommen die Krankenkassen ins Spiel. Auch sie sind aufgerufen, mehr zu tun.

Besonders gefordert sind Angehörige von Demenzkranken. Warum?

Hier ist in besonderer Weise die 24-Stunden-Präsenz erforderlich. Sehr anstrengend und psychisch belastend sind auch die ständigen Wiederholungen der Kranken und die erschwerte Verständigung mit ihnen. Angehörige müssen lernen, auf vertraute Menschen plötzlich völlig anders zuzugehen und neue Formen der Kommunikation mit ihnen herauszufinden.

Obwohl die Zahl der Menschen mit Demenz steigt, ist die Erkrankung für viele immer noch ein Tabu. Von vielen Familien wird Demenz nicht thematisiert. Häufig ziehen sie sich zurück. Auch das Umfeld ist verunsichert und bricht Kontakte ab. Die Isolation aufzubrechen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen mehr Sensibilität und Information zum Umgang mit Demenzkranken.

Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Westerfellhaus, will den Pflegedschungel entzerren und schlägt zwei flexible Budgets für die häusliche Pflege vor: ein Pflegebudget und ein Entlastungsbudget. Die Höhe soll sich nach dem Pflegegrad richten. Der richtige Ansatz?

Ein Budget ist auf jeden Fall ein guter Ansatz, aber er muss bundesweit gleich sein und die Details müssen laienverständlich und unbürokratisch umsetzbar sein. Viele Angehörige fragen sich, warum es nicht nur ein Budget geben kann, das eine sehr individuelle Inanspruchnahme von Leistungen zulässt. Sie fürchten, dass das Ganze genauso undurchsichtig bleibt wie bisher und damit der Zugang zu Entlastungsangeboten weiter schwierig ist.

Die Bundesregierung sollte bei der geplanten Pflegereform verstärkt die Expertise von Angehörigen mit eigener Pflegeerfahrung einholen. Sonst besteht die Gefahr, dass auch diese Veränderungen wieder an den Nöten der unersetzlichen Pflegenden vorbeigehen.

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