Tod aus Kindersicht

Schon Babys können trauern

Stirbt ein Elternteil, Bruder oder Schwester, ist das für Kinder eine traumatische Erfahrung. Allerdings trauern sie anders als Erwachsene. Eine Expertin erläutert, was zu beachten ist.

Von Anne Zegelman Veröffentlicht:
Kinder trauern nicht durchgehend, erklärt die Berliner Expertin Sylvia Vogel.

Kinder trauern nicht durchgehend, erklärt die Berliner Expertin Sylvia Vogel.

© Nailia Schwarz/photos.com PLUS

BERLIN. Sylvia Vogel zieht den Reißverschluss des schwarzen Koffers auf und betrachtet den Inhalt. In weißen Pappschachteln sind allerhand Utensilien verstaut, mit denen Erzieherinnen und Lehrer Kindern den Tod erklären können. Sie hebt eine der Kisten heraus, öffnet sie und legt nach und nach den Inhalt auf den Tisch.

 Eine schwarze Sonnenbrille — für die weinende Mutter. Eine schwarze Krawatte — für den trauernden Vater. Eine Armbinde, ein Stofftaschentuch, einen Rosenkranz. "Und Schminke, mit der die Kinder sich bleich anmalen können", sagt Sylvia Vogel und zeigt den Kunststoffkasten mit den Farben, die an Faschingsschminke erinnern.

Sylvia Vogel ist Leiterin des Kindertrauerzentrums Björn Schulz-Stiftung in Berlin und weiß: "Gerade kleine Kinder haben zum Tod eine tabulose Beziehung." Die Diplom-Pädagogin ist in ganz Deutschland unterwegs, um über Trauerarbeit und das kindliche Verständnis vom Sterben zu sprechen.

Dabei stellt sie auch die Materialsammlung "Vergiss mein nicht" vor, die in jeder größeren Stadt vorrätig ist und gegen eine geringe Gebühr neben Kitas und Schulen auch von Hospizen, Elternvereinen und anderen Einrichtungen ausgeliehen werden kann.

Kindersarg mit Rollen

Wie "tabulos" Kinder sich dem schwierigen Thema nähern, verdeutlicht diese Geschichte: "In München wird die Materialsammlung in einem Koffer verliehen, in Kassel in einem Kindersarg mit Rollen untendran", berichte Sylvia Vogel. "Wenn ich damit an Schulen gehe, wollen die Kinder sich nach einer Zeit immer hinein setzen und damit durch die Gegend fahren."

Doch bei aller Unbefangenheit ist das Thema Tod auch für Kinder ein schweres — gerade, wenn es plötzlich in die eigene Familie einbricht. "Um trauernden Kindern helfen zu können, muss man verstehen, wie sie das Phänomen Tod begreifen", sagt Sylvia Vogel.

Durch Stimme empfänglich

Was viele Eltern und auch Ärzte nicht wüssten: "Babys haben zwar keine Vorstellung vom Tod, doch sie nehmen Veränderungen in ihrer Umgebung sehr wohl wahr", sagt die Trauerexpertin.

Zum Beispiel, wenn ein Geschwisterkind stirbt. "Es langt nicht, zu sagen: ,Zum Glück ist mein anderes Kind noch so klein und bekommt das alles nicht richtig mit'", warnt Sylvia Vogel.

Denn über Kanäle wie Stimme oder Körpertemperatur der Eltern seien auch Babys sehr wohl für Trauer empfänglich. Dann sei es umso wichtiger, auf Signale zu achten: "Ganz kleine Kinder reagieren mit dem, was sie zur Verfügung haben", erklärt Sylvia Vogel. "Sie weinen andauernd oder verweigern Nahrung."

Auch Kinder bis drei Jahre hätten noch keine konkrete Vorstellung vom Tod. "Tot zu sein bedeutet für sie das gleiche wie weg sein", erklärt Vogel. Kinder in dieser Altersstufe unterteilten sich die Welt in einfache Gruppen, in gut oder schlecht, lieb oder böse.

"Wenn jemand aus ihrem Umfeld stirbt, suchen die Kinder nach dem Verstorbenen, warten auf ihn und wünschen sich, dass er wiederkommt." Eltern müssten sie liebevoll aufklären, statt ungeduldig auf Fragen zu reagieren. "Wenn Kinder sich nicht ernst genommen fühlen, werden sie sich zurückziehen", warnt Vogel.

Bis zum Alter von fünf Jahren würden Kinder anfangen, zwischen belebt und unbelebt zu unterscheiden. "Es ist ihnen bereits klar, dass die Puppe nicht lebendig ist, im Gegensatz zu anderen Kindern", erklärt die Diplom-Pädagogin. In der kindlichen Vorstellung sterben sehr alte oder auch böse Menschen, der Tod liegt jedoch völlig außerhalb des eigenen Lebens.

"Kinder zwischen drei und fünf wollen die Umwelt und den Tod erforschen. Sie untersuchen zum Beispiel tote Tiere, die sie unterwegs finden, oder buddeln den toten Hamster wieder aus."

Plötzlich Lust auf Schoko-Eis

Stirbt ein geliebter Mensch wie Bruder oder Schwester oder auch ein Haustier, würden auch Kinder trauern, allerdings nicht durchgehend. "Im einen Moment sind sie traurig, im nächsten möchten sie ein Schokoladeneis und denken nur noch daran", erklärt Sylvia Vogel.

Als Reaktion auf einen einschneidenden Verlust könne es in diesem Alter zu Rückschritten in der Entwicklung kommen, zum Beispiel, wenn Kinder das Bett nässen. "Das sind Tränen, die nach unten fließen", zitiert Sylvia Vogel eine Formulierung, die sie in einem Bericht gelesen hat.

Es könne hilfreich sein, wenn Kinder mit entsprechender vorsichtiger Begleitung direkt Abschied nehmen und den Verstorbenen noch einmal sehen könnten. Wenn sie sich mit eigenen Augen vom Tod überzeugt und erkannt hätten, dass der Verstorbene keine Lebenszeichen mehr zeige, falle es ihnen leichter, das Geschehene zu verstehen. Doch Sylvia Vogel betont auch, dass diese Ansicht nicht unumstritten sei.

Auch die eigene potenzielle Schuld am Tod des Geschwisters oder Elternteils wird von den Kindern hinterfragt. "Das ist auch das Alter des magischen Denkens", sagt die Trauerbegleiterin. "Kinder fragen sich dann zum Beispiel, ob ihr Bruder noch leben würde, wenn sie öfter mit ihm gespielt hätten."

Zwischen zehn und zwölf Jahren begreifen Kinder, dass auch sie, ihre Eltern und Geschwister irgendwann sterben könnten. Stirbt ein Geschwisterkind oder Elternteil an einer Krankheit, überprüfen sie den eigenen Körper immer wieder auf entsprechende Symptome.

 Kinder in diesem Alter zögen sich zurück, wollten häufig auch nicht mit auf den Friedhof gehen. "Das verletzt die Eltern", sagt Sylvia Vogel. Sie bittet um Verständnis für die jungen Trauernden: "Kinder können oft nicht damit umgehen, wollen lieber nichts damit zu tun haben."

Suizid als einziger Ausweg?

Reift ein Kind zum Jugendlichen, erarbeitet es sich nach und nach die vier Punkte des Konzepts Tod: Irreversibilität, Nonfunktionalität, Kausalität und Universalität. Doch die Tragweite zu begreifen bedeutet auch, nun anders zu trauern.

"Stirbt ein Geschwisterkind oder ein Elternteil, geraten Jugendliche oft in Sprachlosigkeit", weiß Sylvia Vogel. "Besonders Jungen wollen in diesem Alter cool sein und nicht als Heulsuse beschimpft werden." Auch die Freunde wüssten nicht, ob und wie sie den Verlust thematisieren sollten, und schwiegen.

"Diese Sprachlosigkeit führt dazu, dass manche Jugendliche sich dezidiert mit dem Thema Suizid auseinandersetzen", so Sylvia Vogel. Selbstmord als Ausweg aus der Trauer. Wie Jugendliche den Tod eines Nahestehenden verkraften, hänge stark vom Umgang mit dem Verlust in der Familie ab.

Wie trauert die Familie insgesamt? Gibt es Rituale? Und war der Trauerfall vorhersehbar? All das sind Faktoren, die zu einer besseren oder schlechteren Verarbeitung beitragen, zählt Vogel auf.

Trauer könne in allen Altersgruppen zu psychosomatischen Reaktionen führen, zu großer Hilflosigkeit und Ohnmacht. "Zudem leiden Geschwister beim Tod eines Kindes doppelt durch die eigene Trauer und die Trauer der Eltern. Wenn sich die Konstellation verändert, wird aus dem Geschwisterkind plötzlich ein Einzelkind", sagt Sylvia Vogel.

Ein Effekt davon könne sein, dass die Eltern ihr verbliebenes Kind überbehüten und übersteigerte Erwartungen an das verwaiste Geschwister stellen, während das verstorbene Kind idealisiert werde.

"Häufig glaubt das Kind, dass nur in seiner Familie so etwas Schlimmes passiert", erklärt Vogel. Hier kommen Trauergruppen ins Spiel wie die, die sie in Berlin leitet. "Wir basteln dort mit den Kindern, weil sie übers Tun besser ins Reden kommen", beschreibt Vogel das Vorgehen.

Wichtig sei es, altersgerecht und in einfacher Sprache mit den Kindern zu reden und ihnen Informationen zu geben. "Die Kinder sollen die Möglichkeit haben, auch Angst und Schuldgefühle auszudrücken", betont Vogel, "genauso wie Wut. Was spricht dagegen, ihnen einen Punching Ball ins Zimmer zu stellen? Auch Steine in den Teich zu werfen kann helfen. Manche Kinder brauchen eine Anleitung, um ihre Wut rauszulassen."

Hilfe für Ärzte und Akteure

Als Expertin für Trauerarbeit mit Kindern ist Sylvia Vogel deutschlandweit unterwegs. Auch auf der Fachtagung der Novartis-Stiftung FamilienBande in Holzkirchen bei München berichtet sie von ihren Erfahrungen und Erkenntnissen kindlicher Herangehensweisen ans Thema Sterben und Verlust.

Der Tod ist einer von vielen Aspekten der Geschwisterkinderbegleitung, mit der sich neben der Stiftung FamilienBande noch zahlreiche weitere Fachgruppen und Selbsthilfekreise in Deutschland beschäftigen.

Gerade Brüder oder Schwester von schwer kranken oder behinderten Kindern entwickeln davon ausgehend häufig später psychische Probleme. Die Stiftung möchte Ärzten und Akteuren Hilfestellung geben.

Weitere Informationen zum Thema Geschwisterkinderbegleitung gibt es auf www.stiftung-familienbande.de.

Lesen Sie dazu auch den Hintergrund: Trauerzentren: Anlaufstellen für Familien

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