Rückblick zur Bundestagswahl

Seehofers Reformen als Gesundheitsminister wirken nach

Bundesminister für Gesundheit, Landwirtschaft und Inneres, CSU-Vorsitzender und bayerischer Ministerpräsident – vom Amtsboten in Spitzenpositionen der Politik – das war Horst Seehofer, der jetzt der Politik „Pfiat di“ sagt. Ein Rückblick auf seine Zeit als Gesundheitsminister.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer 1993 am Krankenbett.

Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer 1993 am Krankenbett.

© Holger Hollemann / dpa / picture

Berlin. Bonanza 1991: Die Wiedervereinigung beschert den Ostdeutschen unter anderem das GKV-Recht West und damit alle Leistungsansprüche der modernen Medizin. Während das dritte Kabinett Kohl und die neue Bundesgesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt auf den Aufbau Ost fokussiert sind, entwickelten die Funktionäre der Ärzte und der Krankenkassen eine erstaunliche Kreativität beim Geldausgeben.

Weite Teile des EBM wurden ausbudgetiert und Leistungen wieder zu festen Punktwerten vergütet, manche KV-Chefs brüsten sich mit zweistelligen Honorarzuwächsen. Die Folgen: 1991 und 1992 steigen die Leistungsausgaben der GKV im Westen fast doppelt so stark wie die Einnahmen.

Im Mai 1992 war Gerda Hasselfeldt am Ende und wurde abgelöst von Horst Seehofer, bis dahin Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium.

„Der hat ja nicht mal Abitur“

Noch spotteten Ärztefunktionäre in ihrem Dünkel über Seehofer: der habe ja nicht mal ein Abitur und sei kein richtiger Akademiker. Sie sollten sich bitter täuschen über den Machtwillen, die Hartnäckigkeit und den Fleiß des Neulings, der sich vom Amtsboten in politische Führungsämter hochgearbeitet hatte.

Seehofer wusste, dass er volle Rückendeckung des Kanzlers bei seinem Sanierungskurs brauchte – und bekam Prokura, auch für Verhandlungen mit der oppositionellen SPD, die für die Zustimmung des Bundesrates nötig war. Binnen zwei Monaten hatte er mit dem damaligen Chef-Gesundheitspolitiker der SPD, Rudolf Dressler, und Dieter Thomae von der FDP den legendären Kompromiss von Lahnstein ausgearbeitet.

Das Sparpaket traf die niedergelassenen Ärzte mit voller Wucht – alle honorarpolitischen Erfolge der vorangegangenen vier Jahre wurden mit einem Schlag zunichte gemacht:

Die Honorarsteigerungen in den Jahren 1993, 1994 und 1995 wurden strikt an die Entwicklung der Grundlohnsumme angebunden. Ausgangspunkt der Budgetierung war die Honorarsumme des Jahres 1991; damit waren alle zwischen KVen und Kassen ausgehandelten Extras für 1992 wieder einkassiert. Die Vereinbarung statusbezogener Extrapunktwerte wurde verboten („Lex Kossow“). Neue Leistungen, etwa für ambulantes Operieren oder Prävention, durften vereinbart werden, mussten aber aus Vergütungsabsenkungen in anderen Leistungsbereichen finanziert werden.

Mit besonderer Härte wurden die Arzneimittelausgaben in den Griff genommen, nachdem die Kosten für Medikamente bereits 1991 um zehn Prozent und doppelt so stark wie die Kasseneinnahmen gestiegen waren. Den Herstellern wurde ein Preisstopp verordnet. Patienten mussten erhöhte Zuzahlungen hinnehmen. Eingeführt wurde ein Arzneibudget ab 1993, für dessen Einhaltung im ersten Jahr der Geltung Hersteller und Ärzte mit ihren Honoraren mit bis zu 560 Millionen DM haften sollten, ab 1994 hafteten die Ärzte allein.

Damit hatten die Ärzte einen neuen Feind: die Pharma-Industrie. Wie ein Damoklesschwert schien die Kollektivhaftung über den Ärzten zu schweben – und die KBV tat alles, um die Panik zu befeuern. Das gesetzliche Budget wurde folglich massiv unterschritten.

Erfolgreicher Budgetierungskurs

Der konsequente Budgetierungskurs – betroffen waren auch alle anderen Leistungserbringer wie Zahnärzte, Krankenhäuser und Heilmittelerbringer – war durchschlagend erfolgreich: Die geplanten Einsparungen von 10,6 Milliarden DM wurden tatsächlich 1993 erreicht.

Doch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) war weit mehr als pure Kostendämpfung, vielmehr wurden auch wichtige und bis heute nachwirkende Reformen vereinbart:

Bedarfsplanung: Der Bundesausschuss wurde verpflichtet, neue Verhältniszahlen zu beschließen, mit dem Ziel, die Niederlassungsmöglichkeiten vor allem bei Überversorgung zu beschränken.

Eine Niederlassung junger Ärzte nach altem Recht musste bis zum 31.Januar 1993 beantragt und bis zum 30. September 1993 realisiert sein. Das führte zu mehr als 10.000 Neu-Niederlassungen, dem sogenannten Seehofer-Bauch, der heute zu einem Altersberg geworden ist. Der einzelne Arzt hatte im Schnitt Honorareinbußen in der Größenordnung von zehn Prozent.

Eine Zulassung als Vertragsarzt war ab 1994 nur noch mit einer abgeschlossenen Weiterbildung möglich. Der Gesetzgeber führte die dreijährige Mindestweiterbildung in der Allgemeinmedizin ein – gegen den Widerstand der Bundesärztekammer und des Marburger Bundes. Es war das Fundament für die Stärkung der hausärztlichen Versorgung.

Erstmals definierte der Gesetzgeber die hausärztliche Versorgung als Langzeitbetreuung von Patienten in ihrem familiären Umfeld mit Koordinationsfunktion und Dokumentierungspflichten.

Ein Meilenstein war die Reform auch für Versicherte: die sozialpolitische Überwindung eines Mehrklassensystems in der Krankenversicherung. Bis Mitte der 1990 Jahre war die Wahlmöglichkeit für Versicherte abhängig von ihrem arbeitsrechtlichen Status – Arbeiter oder Angestellter. Seehofer, Dressler und Thomae beendeten dies und öffneten die Ersatzkassen für alle , die Betriebskassen bekamen das Recht, selbst über die Öffnung zu entscheiden.

Freie Kassenwahl und RSA

Das Wahlrecht läutete eine neue Ära des Wettbewerbs im Kassensystem ein. Um diesen fair zu gestalten, mussten strukturbedingte Nachteile bestimmter Kassenarten, insbesondere der AOK kompensiert werden. Deshalb wurde 1994 der erste Risikostrukturausgleich eingeführt, der Lohnunterschiede, Zahl der beitragsfrei mitversicherten Familienmitglieder, Alter und Geschlecht der Versicherten berücksichtigte. Gewinner waren vor allem die Betriebskrankenkassen, die in den Folgejahren ihren Marktanteil auf 20 Prozent verdoppeln konnten.

Doch diese strukturellen Reformen gingen angesichts der Schärfe und der Bedrohung durch das Spargesetz bei den betroffenen Ärzten und ihren Funktionären völlig unter. „Sie stehen vor einem Scherbenhaufen“, konstatierte der KBV-Ehrenvorsitzende Hans-Wolf Muschallik vor der Dezember-Vertreterversammlung 1992. Ein Shitstorm erreichte die Leserbrief-Redaktion der „Ärzte Zeitung“, in der Wortwahl nicht unähnlich den Hasswellen in heute existierenden „sozialen“ Netzwerken.

Seehofer ließ dies unbeeindruckt: Anfang Mai 1993 stellte er sich sowohl der KBV-Vertreterversammlung als auch den Delegierten des Deutschen Ärztetages. Und wickelte die wütenden Funktionäre um den Finger – mit ihren eigenen Argumenten. Ganz unschuldig charmierte er: „Ständig muss ich mich dafür entschuldigen, wie mich der Herrgott geschaffen hat. Ich wollte, ich wäre nur ansatzweise so clever, wie ständig von mir behauptet wird.“

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Dass die Funktionäre der KBV unter ihren Ärzten wegen des möglichen Kollektivregresses Panik erzeugt und dafür gesorgt hatten, dass die effektiven Arzneiausgaben weit unter Budget gedrückt worden waren, nutzte Seehofer zum Schulterschluss: „Ich trage die politische Verantwortung dafür, dass die Ärzte einen Sparkurs fahren, auch wenn sie mehr sparen als erforderlich. Die deutschen Ärzte sind ein hochmoralischer Berufsstand!“ – Tosender Beifall.

Seehofers harte Hand bekam aber auch eine andere Institution des Gesundheitswesens zu spüren: das Berliner Bundesgesundheitsamt, unter anderem mit dem Arzneimittelinstitut zuständig für Zulassung und Sicherheit von Arzneimitteln.

Auflösung des BGA nach Skandal

Am 9. Oktober 1993 verkündete Horst Seehofer auf einer Sondersitzung des Bundestags-Gesundheitsausschusses die Auflösung des BGA zum 30. Juni 1994, die Entlassung seines zuständigen Abteilungsleiters Manfred Steinbach, des BGA-Präsidenten Dieter Großklaus und des Chefs des Arzneiinstituts, Gottfried Kreutz.

Grund war der Aids-Bluter-Skandal; 1500 Hämophilie-Kranke hatten sich bei der Behandlung mit kontaminierten Blutplasma-Präparaten an HIV infiziert, über 1000 waren inzwischen gestorben. Ursache: Das BGA hatte viel zu spät den nicht hitzeinaktivierten Plasma-Präparaten die Zulassung entzogen – ein Untersuchungsausschuss des Bundestages konstatierte schwerwiegende Amtspflichtverletzungen.

Von der Gegnerschaft zu kritischer Partnerschaft: Horst Seehofer und BÄK-
Präsident Karsten Vilmar beim Ärztetag 1995.

Von der Gegnerschaft zu kritischer Partnerschaft: Horst Seehofer und BÄK- Präsident Karsten Vilmar beim Ärztetag 1995.

© Bernd Weissbrod / dpa / picture

Seehofer verselbstständigte das Bundesinstitut für Arzneimittel (BfArM), das einen mühseligen Prozess der Restrukturierung durchlief, bis es am Ende der 2000er Jahre zu einer international anerkannten Institution wurde. Das aber war nicht mehr Horst Seehofers Leistung.

In seiner zweiten Amtsperiode verhedderte sich Seehofer mehr und mehr im Reformgestrüpp. Die Kostendämpfungseffekte des GSG waren aufgebraucht, die Arzneibudgets und vor allem die Kollektivhaftung der Ärzte erwiesen sich als nicht administrierbar. Die Kassen gerieten erneut in die roten Zahlen. Bei den Petersberger Gesprächen versuchte er den Dialog mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen. Mit einem Mix aus höheren Zuzahlungen, Leistungskürzungen und Wettbewerbsverschärfungen für die Kassen, etwa durch ein Sonderkündigungsrecht bei Beitragserhöhungen versuchte Seehofer, die Defizite einzugrenzen.

RLV – Ausweg aus dem Budget?

Derweil wuchs der Unmut der Vertragsärzte über das Budgetdiktat, das sich zunehmend als innovationsfeindlich erwies. Einen Ausweg sollte das 2. GKV-Neuordnungsgesetz 1997 weisen: durch die Vereinbarung von arztgruppenbezogenen Regelleistungsvolumina und Höchstfallzahlen, für die Kassen und KVen feste Punktwerte aushandeln sollten. Es wäre ein Ausweg aus der strikten Budgetierung gewesen (die „Ärzte Zeitung“ berichtete am 18. Juli 1997).

Aber dafür hätte eine wesentliche Vorgabe entfallen oder modifiziert werden müssen: die strikte Orientierung der Honorare an der Grundlohnentwicklung. Doch dieses Paradigma wurde erst zehn Jahre später mit dem 2007 verabschiedeten Wettbewerbsstärkungsgesetz von Ulla Schmidt und der Einführung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung aufgegeben.

Horst Seehofer

  • Horst Lorenz Seehofer wird am 4. Juli 1949 in Ingolstadt als Sohn des Lkw-Fahrers Lorenz Seehofer und seiner Frau Grete geboren.
  • Ausbildung: Mittlere Reife 1965, Start als Amtsbote (Besoldungsgruppe A 1) in die Ausbildung im mittleren Dienst in der Kommunalverwaltung Ingolstadt, 1970 Aufstieg in den gehobenen Dienst als Verwaltungsinspektor, leitende Funktionen in den Landratsämtern Ingolstadt und Eichstätt, 1979 nach nebenberuflichem Studium Verwaltungs-Betriebswirt an der Verwaltungs-und Wirtschaftsakademie München.
  • Politische Karriere: 1969 Eintritt in die Junge Union, 1971 in die CSU; 1980 bis 2008 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1989 Berufung zum Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung; Mai 1992 Berufung zum Bundesgesundheitsminister (bis zum Ende der Amtszeit Kohl 1998); ab 1998 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; lebensgefährliche Erkrankung an einer Myokarditis Anfang 2002; Rücktritt als Fraktionsvize im November 2004 wegen des Streits um die Gesundheitsprämie; 2005 Berufung zum Bundeslandwirtschaftsminister; 2008 Wahl zum CSU-Vorsitzenden und zum bayerischen Ministerpräsidenten; 2018 Berufung zum Bundesminister des Innern; Seehofer ist derzeit der am längsten amtierende Bundesminister.
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