Tausende Hausärzte protestieren gegen Reformpläne

BERLIN (HL/fst/iss). Eine Woche vor dem entscheidenden Kabinettsbeschluss zur Gesundheitsreform haben tausende von Hausärzten protestiert. In Sindelfingen und Essen appellierten sie in Großveranstaltungen an Politiker in Bund und Land, Selektivverträgen nicht die Grundlage zu entziehen.

Veröffentlicht:
"Erst stirbt die Praxis, dann stirbt der Patient." Zwei demonstrierende Ärzte in Essen.

"Erst stirbt die Praxis, dann stirbt der Patient." Zwei demonstrierende Ärzte in Essen.

© klaro (6)

Die AOK Baden-Württemberg hat den frühestmöglichen Kündigungszeitpunkt um drei Jahre auf Ende 2015 verschoben. "Das schafft Planungssicherheit", sagte AOK-Vize Hermann in Sindelfingen. Landesgesundheitsministerin Stolz sagte, ein höheres Honorar sei bei Einsparungen und Mehrleistungen möglich.

Hausärzte-Chef Dietsche erinnerte daran, dass Haus- und Fachärzte im Südwesten die Verlierer der Honorarreform seien. Selektivverträge seien daher als zweites Standbein wichtig. Dabei warnte Medi-Chef Baumgärtner, die Beschneidung der Honorare in Hausarztverträgen werde auch Folgen für Facharztverträge haben. Medi hat mit der Landes-AOK und Berufsverbänden Versorgungsverträge für Kardiologen und Gastroenterologen gestartet.

In Essen drohte der nordrheinische Hausärztechef Mecking mit einer Eskalation des Protests. Sein westfälischer Kollege Hartmann sagte: "Die Zeit friedlichen Verhaltens ist vorbei." Die aktuellen Proteste der Hausärzte seien nur der Anfang, sagte Mecking bei einer Veranstaltung in der Essener Grugahalle betont.

"Das Jahr hat noch genügend Tage, um die Dinge weiter zu eskalieren", warnte Mecking vor gut 1800 Hausärzten, Praxismitarbeiterinnen und Patienten. Sie alle hätten verstanden, dass die Hausärzte das Rückgrat einer guten Versorgung sind. "Unser Protest wird dazu beitragen, dass wir das auch bleiben", sagte er.

Die Hausärzte werden mit ihrem Kampf für die hausarztzentrierte Versorgung und eine gerechte Vergütung nicht mehr nachlassen, sagte auch der westfälisch-lippische Verbandsvorsitzende Dr. Norbert Hartmann. "Die Zeit des friedlichen Verhaltens ist vorbei."

Er begrüßte die Ankündigung der Staatssekretärin im nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium Marlis Bredehorst, das Ministerium unterstütze die Forderung der nordrhein-westfälischen Ärzte nach einer gerechten Honorierung. Eins müsse aber klar sein. "Wir wollen das Geld, das nach Nordrhein-Westfalen kommt, nicht den Hausärzten in Bayern oder Baden-Württemberg wegnehmen", sagte Hartmann.

Bundesgesundheitsminister Rösler rief die Ärzte unterdessen zur Ordnung: Es sei unfair, den Protest auf dem Rücken der Patienten auszutragen. Scharfe Kritik kommt auch von den Kassen: "Die Hausärzte verspielen ihren Ruf und schaden dem Image des Arztberufs insgesamt", sagte vdek-Chef Ballast.

Top-Thema Ärzteproteste: Streit um Hausarztverträge verhärtet Hausärzte fordern Rücktritt von KBV-Chef Köhler Hausärzte in NRW trauen Politikern nicht mehr Südwesten soll Trutzburg der Selektivverträge sein Add-on-Verträge: Niedersachsen steht hinter Vertragsmodell Rösler: Meine Kinder nur zum Pädiater! Tausende Hausärzte protestieren gegen Reformpläne

Jetzt abonnieren
Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

„ÄrzteTag“-Podcast

Kommt der Abholdienst der Labore in Zukunft seltener in die Arztpraxen?

Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 16.09.201014:08 Uhr

HAUSÄRZTINNEN UND HAUSÄRZTE PROTESTIEREN!!!

Warum wurde bundesweit protestiert?

Z.B. gegen Dr. med. Philipp Röslers Aussage in der Ärzte Zeitung (ÄZ): "Wir wollen keine Hausärzte erster und zweiter Klasse". Diese hat er selbst geschaffen: Hausärzte 1. Klasse in Bayern, Baden-Württemberg und vereinzelt anderswo mit bestehenden HzV-Verträgen nach § 73b SGB V und Barfuß- Hausärzte 2. Klasse im Rest der Republik, die in einer Art "Strafaktion" auf das Regelleistungsvolumen ihrer KVen zurückgestutzt werden sollen.

Z. B. gegen die Konzeptionslosigkeit bei der Honorardeckelung, wo im ÄZ Interview unser Bundesgesundheitsminister (BGM) tapfer antwortete, ein Deckel, der um 0,75 % angehoben werden, sei eigentlich gar kein Deckel mehr. Doch ein Deckel, der zu 99,25 % geschlossen bleibt, bleibt ein Deckel und hat keinerlei öffnende Wirkung!

Z. B. gegen die Torpedierung der Hausarztzentrierte Versorgung (HzV). Sie wird durch den BGM jetzt zum Abschuss freigegeben. Im gültigen Gesetz § 73b SGB steht aber seit 2009 (!), dass die HzV zum A b s c h l u s s freigegeben ist. Der Hausärzteverband (HÄV) hat dazu das gesetzliche Verhandlungsmandat, die Verträge nach Bayern und Baden-Württemberg b u n d e s w e i t erfolgreich abzuschließen, und nicht die KVen oder die KBV.

Z. B. gegen die vom Hartmannbund, dem Internistenverband (BDI), dem Virchow-Bund und anderen Funktionären favorisierte Kostenerstattung à la PKV. Sie ist rein rechtlich, formal und inhaltlich mit der GKV nicht kompatibel und eine Spielwiese für verbandspolitische Dilettanten.

Z. B. gegen die offenkundig verfassungswidrige Kopfpauschale, ein völlig gescheitertes Lieblingsprojekt des Kollegen Rösler. Sein ''déja vu'' ist in Vorbereitung: "Wir denken über ein intelligentes System der Kostenerstattung nach" tönt es im Interview des Deutschen Ärzteblatt Nr. 37 vom 17. 9. 2010 auf Seite A 1726, eine klassische ''contradictio in adjecto'' und eine Nebelkerze dazu!

Z. B. gegen den atemberaubenden Schulterschluss vieler GKV-Kassen mit dem BGM, wobei die BEK/GEK als größte GKV-Ersatzkasse und Körperschaft Öffentlichen Rechts Alles, aber auch wirklich Alles, unternommen hat, um den für sie verbindlichen Hausarzt-§ 73b zu unterlaufen, der die HzV regeln sollte. Und dann auch noch einen Rechtsstreit vom Zaun brechen, weil ein Schiedsergebnis mit der Fallwertobergrenze von hausärztlichen 80 Euro/Quartal bei multimorbiden Schwerstkranken nicht goutiert?

Z. B. gegen den phantastischen Horrorschocker von 11 Milliarden Euro Defizit in der GKV, wofür der BGM nicht einen einzigen Beleg lieferte, aber dem Kabarettisten Volker Pispers eine Steilvorlage. Alle Experten rechnen mit 4-5 Mrd. Euro für 2010 mit konjunkturbedingter Besserung für 2011.

Z. B. gegen die Rösler''schen "Zusatzbeiträge", bei denen der BGM jüngst der ''Rheinischen Post'' erklärte, dass diese nur heiße Luft seien und im Durchschnitt gegen Null tendieren würden. Was für ein talentierter Statistiker!


Und warum sind so viele in ihren Praxen oder zu Hause geblieben?

Die Kolleginnen und Kollegen sind mutlos, verzagt, mit Scheuklappen versehen, manche auch borniert, unsystematisch und undiszipliniert denkend, auf Somatisches fixiert, ihre eigene Psyche und die der Patienten verleugnend. Viele haben Versagens- und Zukunftsängste, manche sind arrogant und überheblich, überspielen ihr Desaster mit Geschwätzigkeit, hohlen Phrasen und Prahlerei, werden stereotype und stumpfe Verbandsfunktionäre, KV-Despoten oder Verwaltungsschranzen. Aber Alle sind menschliche Wesen mit Talenten, Fehlern und Schwächen, haben ein Recht darauf, fair und respektvoll behandelt zu werden. Die absolute Mehrheit ist Tag und Nacht für ihre Patienten da, reibt sich auf im Routine- und Regressgeschäft, kann und darf nicht mal innehalten, wenn langjährige Patienten sterben, wenn Empathie, Zuwendung und Verständnis keinen Platz mehr haben für Trauer, Not, Pein, Schmerz, Mühsal, Kampf und Anstrengung. Und das Hamsterrad dreht sich schnell

Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

FAQ zum Videokontakt

Videosprechstunde – das gilt für Praxisteams

Lesetipps
Eine junge Frau sitzt beim Arzt und hält sich verzweifelt den Kopf.

© M.Dörr & M.Frommherz / stock.adobe.com

Schmerz- und Palliativtage

Migräne bei Menschen mit Depressionen: Was kann verordnet werden?