Gesetz vor 20 Jahren
Tötung auf Verlangen ist in den Niederlanden fest etabliert
Aktive Sterbehilfe ist in den Niederlanden eine übliche Art des Sterbens geworden. Vor 20 Jahren erlaubte das Nachbarland als erster Staat der Welt die Tötung auf Verlangen.
Veröffentlicht:Bonn. Für Kritiker war es ein Kulturbruch: Das erste Mal erlaube ein demokratischer Staat die Tötung unschuldiger Bürger, hieß es. Am 1. April 2002, vor 20 Jahren, trat in den Niederlanden als weltweit erstem Land ein Gesetz in Kraft, das aktive Sterbehilfe zulässt. Einen Monat später zog Belgien nach; Luxemburg folgte 2009. Mittlerweile auch Spanien und Kanada.
Das Wort „Euthanasie“ hat in den Niederlanden einen anderen Klang als in Deutschland. In Deutschland wurde über aktive Sterbehilfe schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Erbgesundheit debattiert; in Nazi-Deutschland gipfelte dieses Denken in der Ermordung von zehntausenden Behinderten.
In den Niederlanden war das Thema dagegen ein Produkt der 60er und 70er Jahre. Die immer perfektere Gerätemedizin ließ eine Debatte über die Grenzen ärztlicher Behandlung und eine Begrenzung des Leidens sterbenskranker Menschen aufkommen.
Gängige Praxis per Gesetz geregelt
Die Gerichte bestimmten das Tempo: Seit 1994 wurde aktive Sterbehilfe in mehreren Verfahren toleriert. Mit dem am 1. April 2002 in Kraft getretenen Gesetz werde lediglich eine gängige Praxis rechtssicher geregelt, betonte die liberale Gesundheitsministerin Els Borst-Ellers damals. Umfragen bestätigten, dass vier Fünftel der Niederländer die Regelung unterstützten, auch 90 Prozent der Ärzte.
Dabei ist auch in den Niederlanden aktive Sterbehilfe bis heute generell strafbar. Wenn allerdings ein Arzt Sterbehilfe leistet und bestimmte Vorgaben einhält, ist dies legal. So muss ein Patient seinen Sterbewillen unbeeinflusst, freiwillig und andauernd aussprechen. Ein zweiter Arzt muss hinzugezogen werden. Nach dem Tod muss der Arzt den Fall einer Kommission melden, die die Rechtmäßigkeit prüft und andernfalls Anzeige erstattet.
Kritiker warnten von Anfang an vor einer abschüssigen Ebene. Viele Zahlen scheinen ihnen Recht zu geben: So erreichen die jährlichen Statistiken immer neue Höchststände. 2020 starben laut dem offiziellen Bericht 6938 Menschen durch Tötung auf Verlangen. Das sind täglich 19 Fälle.
Hausärzte nehmen Tötung auf Verlangen zumeist vor
Vorgenommen wurde die aktive Sterbehilfe mehrheitlich von Hausärzten (82,4 Prozent) und zu Hause (81,8 Prozent). Laut Report ist zwar der Anteil der Menschen mit einer Krebserkrankung immer noch am höchsten (65 Prozent). Zugleich nehmen aber andere Euthanasie-Diagnosen zu: etwa die „Kumulation von Altersbeschwerden“ (235 Fälle) oder Demenz (170 Fälle). Diese Zahlen dürften wohl in den kommenden Jahren angesichts der demografischen Lage weiter ansteigen.
Theo Boer, Medizinethiker und bis 2014 Mitglied der Euthanasie-Kontrollkommission, sieht die Entwicklung kritisch. Seit der Einführung des Sterbehilfegesetzes sei die Hemmschwelle zur Tötung deutlich gesunken. Es habe nur wenige Jahre gedauert, bis sich aus der anfangs „extremen Ausnahme“ eine „normale Sterbeweise“ entwickelt habe.
Auch die Diagnosen haben sich ausgeweitet: So ist laut Gesetz aktive Sterbehilfe nur bei schweren, unheilbaren und unerträglichen Krankheiten zugelassen. Inzwischen akzeptieren Ärzte jedoch auch „Lebensmüdigkeit“ oder eine Vielzahl an Altersgebrechen als Grund.
Die Frage, was unerträglich ist, lässt sich eben nur schwer beantworten. Seit 2005 dürfen in den Niederlanden auch missgebildete Neugeborene straffrei getötet werden, wenn Bedingungen eingehalten werden.
Mobile Dienste springen ein, wenn Hausärzte sich weigern
Bei Demenz baten die Betroffenen oft schon, im Frühstadium der Demenz getötet zu werden – aus Angst vor künftig drohendem Ich-Verlust. Laut einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von April 2020 ist die Tötung von schwer dementen Patienten sogar dann zulässig, wenn sie zuvor eine entsprechende Patientenverfügung formuliert haben, aber sich zum Zeitpunkt der geplanten Tötung gegen die Todesspritze wehren. Mittlerweile gibt es im Nachbarland auch private Zentren oder mobile Dienste, die aktive Sterbehilfe anbieten, falls die Hausärzte eine Freigabe ablehnen.
In Deutschland ist Tötung auf Verlangen klar untersagt. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zur Suizidbeihilfe vom Februar 2020 ein weitreichendes Grundrecht auf selbstbestimmten Tod und dabei auch das Recht auf Hilfe Dritter formuliert.
Drei Gesetzentwürfe aus dem Bundestag und ein weiterer des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) wurden in der abgelaufenen Legislatur diskutiert, keiner davon aber beschlossen.
Nach der Bundestagswahl sind inzwischen wieder erste Entwürfe neu vorgelegt worden – zuletzt Anfang März von einer fraktionsübergreifenden Abgeordneten-Gruppe um die Grünen-Politikerinnen Renate Künast und Katja Keul. (KNA)