Pflegestärkungsgesetz
Und täglich grüßt die Pflegereform
Viel Lob an allen Ecken und Enden: Der Pflegebedürftigkeitsbegriff ist neu definiert worden. Was bringt das den Menschen, die Pflege benötigen, tatsächlich?
Veröffentlicht:BERLIN. Hat das Pflegestärkungsgesetz II die Qualität einer eierlegenden Wollmilchsau?
Dieser Eindruck könnte durchaus entstehen, wenn man sich - zumindest oberflächlich - mit den Reaktionen von Politikern, Kassen- und Verbandsvertretern beschäftigt, nachdem das Gesetz in trockenen Tüchern war. Wohlwollen, Zustimmung allenthalben - zumindest auf den ersten Blick.
Kein Zweifel: Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist ein Meilenstein. Pflege individueller gestalten, Menschen mit kognitiven Defiziten nicht länger benachteiligen, Pflegebedürftige und Angehörige besser beraten, Widersprüche im System Pflegeversicherung abbauen - das sind Ziele, deren Realisierung seit langem überfällig waren.
Wenn, wie das Gesundheitsministerium berechnet hat, 500.000 Menschen zusätzlich anspruchsberechtigt werden, wenn kein Bedürftiger durch die Umstellung der Systematik schlechter gestellt wird, dann sind das Ergebnisse, mit denen sich der Gesetzgeber nicht verstecken muss.
Und dennoch: Der Teufel steckt wie immer im Detail.
MDK für neues Begutachtungsassessment fit machen
Das neue Begutachtungsassessment zum Beispiel soll bei der Einstufung der Antragsteller alles einfacher machen. Das funktioniert aber nur, wenn MDK-Mitarbeiter professionell für das neue Verfahren fit gemacht werden.
Wer sich an die Verwerfungen bei der Einführung der Pflegeversicherung vor etwa 20 Jahren erinnert, der bekommt eine Idee, welche Mammutaufgabe auf die Beteiligten hier wartet.
Gutachter des MDK haben die Fähigkeiten von Antragstellern bisher in 30 einzelnen Kategorien überprüft, in Zukunft sollen es 77 sein. Die Herausforderungen sind hochkomplex und nicht im Ansatz mit dem System aus den Anfängen der Pflegebegutachtung zu vergleichen.
Nicht ohne Grund rückt das Pflegestärkungsgesetz II die pflegenden Angehörigen in den Fokus. Gemessen am Zeitaufwand entspricht die gesellschaftliche Wertschöpfung der Angehörigenpflege nach Zahlen des AOK-Bundesverbands, die beim Deutschen Pflegetag genannt wurden, jährlich 29 Milliarden Euro.
Neun von zehn pflegenden Angehörigen sind Frauen. Das ergibt sich aus Zahlen des DAK-Pflegereports 2015. Ein Drittel dieser Frauen ist berufstätig, Viele pflegende Angehörige fühlen sich dem Report zufolge oft überfordert - körperlich (50 Prozent), psychisch (68 Prozent) oder zeitlich (71 Prozent).
Obwohl das Pflegestärkungsgesetz etwa mit einer angemesseneren Absicherung in der Renten- und Arbeitslosenversicherung konkrete Verbesserungen für die pflegenden Angehörigen vorsieht, gibt es hier weiter erheblichen Handlungsbedarf.
Pflege muss Dauerbaustelle bleiben
Christoph Straub, Vorstandschef der Barmer GEK, beschreibt die Pflege als ein "Politikfeld mit stetigem Handlungsdruck".
In der Tat gibt es in vielen Bereichen rasante Entwicklungen, wie etwa ein aktueller Report der AOK Nordost für die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zeigt.
Menschen leben danach heute deutlich länger mit ihrer Pflegebedürftigkeit als noch vor fünf Jahren. Ende 2010 waren 63,4 Prozent aller Menschen, die fünf Jahre zuvor als pflegebedürftig eingestuft wurden, gestorben.
Ende 2014 galt das nur noch für 60,2 Prozent. In Zukunft wird es also immer stärker darauf ankommen, für eine bessere Lebensqualität der Menschen zu sorgen, die bereits pflegebedürftig sind.
Wenn Arbeiten an einer öffentlichen Baustelle nach langer Vorlaufzeit endlich abgeschlossen werden, dann stößt das beim Bürger auf Wohlwollen.
Beim Blick auf die Baustelle Pflege kann er allerdings nur hoffen, dass die Arbeit dort niemals enden wird, denn das würde fatale Folgen haben.
So absurd es auch klingen mag: Der Bereich Pflege muss eine Dauerbaustelle bleiben. Nur dann können die wachsenden Herausforderungen in einer immer älter werdenden Gesellschaft bewältigt werden.