Reproduktionsmedizin
Was heißt hier noch Familie?
Vater, Mutter, Kind - gilt das heute noch? Die Reproduktionsmedizin eröffnet immer neue Optionen - und die ethische Debatte hinkt hinterher. Was heute noch Familie bedeutet, ist längst nicht mehr verbrieft.
Veröffentlicht:BERLIN. "Das ist es!", titelte das Magazin "Quick" mit großem Foto am 22. April 1982. Sechs Tage zuvor war in der Frauenklinik Erlangen Oliver geboren worden, das erste deutsche "Retortenbaby", wies es damals hieß.
Was damals noch mit leichtem Schauder dem Publikum vermeldet wurde, gehört heute längst zum Alltag in deutschen Reproduktionszentren. Die medizinischen Möglichkeiten haben sich ungleich schneller entwickelt als die Debatte im Parlament und in der breiten Öffentlichkeit.
Das Thema Fortpflanzungsmedizin ist "notorisch umstritten", konstatierte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Professor Christiane Woopen, bei der Jahrestagung des Rats in Berlin. Sie sollte Recht behalten. Inzwischen ist nahezu jeder Schritt der Reproduktion technisch gestaltbar geworden.
Damit verschieben sich einerseits unsere überkommenen Vorstellungen von Familie - zum Ensemble von Vater, Mutter und Kind treten ganz neue Figuren hinzu: Der Samenspender oder die Eizellspenderin - oder gar die Leihmutter.
Bis zu 400 Kinder nach Eizellspende
Eizellspende und Leihmutterschaft sind in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten - finden aber dennoch statt. Nach Angaben von Professor Sigrid Graumann von der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe kommen in Deutschland 300 bis 400 Kinder nach Eizellspende pro Jahr zur Welt.
Die Paare greifen dabei auf die zahlreichen Angebote von Kinderwunschzentren vor allem in Spanien oder Tschechien zurück.
Bis zu 1000 Euro würden in Spanien die Spenderinnen - jede Vierte unter ihnen Studentin - erhalten. Strafbar machen sich die an einer Eizellspende oder Leihmutterschaft beteiligten Ärzte oder Vermittler, nicht aber die Eizellspenderin, -empfängerin, die Leihmutter oder die "Bestelleltern", machte die Juristin Dr. Ulrike Riedel klar. Der Fortpflanzungstourismus bleibe für die beteiligten Paare also strafrechtlich folgenlos.
Dennoch halten Riedel und Graumann es für geboten, am Verbot der Eizellspende - und erst recht der Leihmutterschaft - festzuhalten. Denn das Recht auf Selbstbestimmung des Kinderwunschpaares gehe nicht mit dem Recht einher, die reproduktiven Ressourcen eines Dritten zu beanspruchen.
Hinzu komme, dass die Langzeitfolgen mit Blick auf die reproduktive Gesundheit der Spenderinnen bisher nur unzureichend untersucht worden seien. Der Schutz der Gesundheit von Eizellspenderinnen rechtfertige einen "sanften Paternalismus" des Gesetzgebers, sagte Graumann.
Da ist sich die Familienrechtlerin Professor Dagmar Coester-Waltjen gar nicht so sicher. Die verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben wie etwa die EU-Grundrechte-Charta geben keine eindeutigen Antworten in den Randbereichen des Rechts, was der Gesetzgeber zu erlauben oder zu verbieten hat, konstatierte sie.
Ihre Schlussfolgerungen lösten ein kontroverses Echo aus: Die Erlaubnis der Samenspende und das Verbot der Eizellspende verstießen gegen das Gebot, im Wesentlichen gleiche Sachverhalte auch gleich zu behandeln.
Fortpflanzungstourismus
Erlaube der deutsche Gesetzgeber die Eizellspende unter definierten Voraussetzungen, dann könnten die Folgen des Fortpflanzungstourismus und der Kommerzialisierung eingedämmt werden, glaubt Coester-Waltjen. Sie forderte, "innerstaatlichen legitimen Bedürfnissen" sollte "mehr Raum gegeben werden".
Die Familienrechtlerin zeigte sich überzeugt, durch eine Legalisierung der Eizellspende könnten der Fortpflanzungstourismus und die Ausbeutung von Frauen als Eizellspenderinnen eingedämmt werden.
Ist eine gut aufgeklärte, altruistisch eingestellte Eizellspenderin aus Deutschland aus ethischen Erwägungen nicht einer Spenderin im Ausland vorzuziehen, die aus ökonomischer Not heraus handelt, wurde bei Tagung des Ethikrats gefragt. Die Wissenschaftlerinnen Graumann und Riedel zeigten sich skeptisch.
Im Falle einer Zulassung der Eizellspende werde die "Nachfrage" steigen, sodass die Zahl der Spenden aus Deutschland nicht ausreichen würden, argumentierten sie. Dabei sei es völlig ungeklärt, wie von Deutschland aus ausländische Spenderinnen vor Ausbeutung geschützt werden könnten.
Wie in einem Brennglas bündeln sich die Konflikte um die Reproduktionsmedizin in der Frage, ob das überlieferte Bild der Familie einer Neudefinition bedarf. Nein, meint der Moraltheologe Professor Eberhard Schockenhoff, der Mitglied des Deutschen Ethikrats ist.
Ehe und Familie seien kein Auslaufmodell: 80 Prozent der Kinder wüchsen nach wie vor bei ihren leiblichen Eltern auf, die verheiratet sind. Schockenhoff zu Folge ist keine alternative Lebensform in Sicht, die "die Familie als Ort der Zuverlässigkeit und Geborgenheit ersetzen könnte".
Der Moraltheologe warnte, eine Gesellschaft, die nicht mehr Ehe und Familie fördere, schwäche ihre "Kohäsionskräfte".
"Fortpflanungsfreiheit" als Recht?
Einen anderen Akzent in der Debatte setzte Professor Claudia Wiesemann, Direktorin der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin an der Uni Göttingen. Sie stellte "Fortpflanzungsfreiheit" als ein fundamentales Recht dar, dessen Reichweite durch andere Grundrechte allerdings eingeschränkt werde.
Heirat oder Blutsverwandtschaft tauchen bei Wiesemann als Begriffe nicht mehr auf. Sie definiert Familie als eine Gruppe von Menschen, in der für Kinder gesorgt wird und die dabei "persönliche, auf Dauer angelegte und von Verantwortung geprägte Beziehungen zueinander unerhalten".
Der Moraltheologe Schockenhoff kritisierte Wiesemanns Position als zu "individualistisch". Fortpflanzungstechniken dürften nicht allein aus der Perspektive der Erwachsenen bewertet werden: "Das Kind ist nicht ein Bezugspunkt fremder Wünsche", so Schockenhoff. Die bewusste Entscheidung eines Elternteils, ein Kind alleine aufzuziehen, stelle "die Selbstsorge in den Vordergrund" und das Kindeswohl hintenan, monierte er.
Geht es Kindern in sogenannten "Regenbogenfamilien", wo sie mutmaßlich Bezugspunkt der Wünsche anderer sein könnten, tatsächlich schlechter? Das hat Dr. Marina Rupp vom Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg untersucht.
Befragt wurden dazu telefonisch 1058 Eltern, darunter 866 Personen aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, in denen insgesamt 693 Kinder leben. 119 von ihnen, die älter als zehn Jahre waren, wurden interviewt.
Höhere Bindungsqualität zu den Eltern
Rupp berichtete, die Kinder hätten nach Einschätzung der Eltern altersentsprechend "adäquate" Geschlechtsrollen in diesen Lebenspartnerschaften entwickelt. Sie wiesen zudem ein überdurchschnittliches Selbstbewusstsein auf, auch die Bindungsqualität zu den Eltern sei höher als im Durchschnitt aller Familien, so Rupp.
Allerdings berichtet fast die Hälfte dieser Kinder von - zumindest vereinzelten - Diskriminierungen von Altersgenossen. Fast 13 Prozent sagen, sie würden häufig wegen ihrer Herkunft aus einer "Regenbogenfamilie" beschimpft, bei fast 17 Prozent passiert das selten, bei rund 67 Prozent der Kinder nie.
Eindeutig fällt die Einschätzung der Kinder darüber aus, wie sie die Lebenssituation ihrer Eltern bewerten: "Voll und ganz o.k." finden es 78,5 Prozent der befragten Kinder, dass sie zwei Mütter oder Väter haben, knapp elf Prozent halten das für "überwiegend" o.k. Rupp folgert aus der Studie, es hätten sich keine Hinweise für Entwicklungsnachteile von Kindern aus "Regenbogenfamilien" im Vergleich zu ihren Altersgenossen aus herkömmlichen Familien ergeben.
Die Tagung des Ethikrats hat deutlich gemacht, dass nicht nur die neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin einer ethischen Debatte bedürfen. Parallel dazu, so die Ethikratsvorsitzende Woopen, müsse sich die Gesellschaft auch über den ethischen Gehalt der Familie neu verständigen.
Retortenbaby nennt man jetzt Wunschkind
"Hier im Labor, mit Blick über die Münchener Innenstadt, entsteht also gerade ein Mensch": So lakonisch wie der Ton des Autors Andreas Bernard, ist auch der Titel seines Buchs: "Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie."
Bernard, Kulturwissenschaftler und Redakteur des "SZ-Magazins", hat nicht nur seine Habilita tionsschrift in eine lesbare Form gebracht. Er hat eine faszinierende Melange aus Medizinhistorie, Werkstattbericht über moderne Reproduktionstechniken und Reportage vorgelegt.
Der beobachtende und analysierende Stil des Autors hebt sich ab von der Wutrede der Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff. Im März hatte die Schriftstellerin bei einer Rede Kinder, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind, als "Halbwesen" bezeichnet. Sie titulierte das "gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse" als "widerwärtig".
Bernards Vorgehen ist nicht nur subtiler, sondern auch überzeugender. Er geht von der Praxis reproduktiver Technologien aus, wie sie in Deutschland und andernorts längst Standard sind: Pro Jahr würden in den rund 140 spezialisierten Zentren über 10.000 Kinder gezeugt. Weltweit gibt es mittlerweile mehr als fünf Millionen Menschen, die im Zuge einer künstlichen Befruchtung gezeugt wurden. Die assistierte Empfängnis, so Bernard, sei von der "rein therapeutischen Methode zur Überwindung männlicher Sterilität innerhalb der Ehe zum Wegbereiter der Familienbildung für Paare geworden".
Der Autor geht weit zurück in die Medizinhistorie und macht so die Geschichtlichkeit der Praktiken und Methoden der Reproduktionstechnologien deutlich. Nicht zuletzt arbeitet Bernard sprachkritisch und zeigt, wie Begriffe wie "Samenspender" oder "Leihmutter" die ökonomischen Imperative der international etablierten Branche verdecken. Wer Begriffe besetzt, formt auch die Wahrnehmungen: Nur so konnten aus "Retortenbabys", wie nach künstlicher Befruchtung entstandene Kinder noch vor 20 oder 30 Jahren genannt wurden, "Wunschkinder" werden. Unkritisch sieht Bernard diese Entwicklung nicht: "Die assistierte Empfängnis praktiziert heute unbeschwerte Fortpflanzungshygiene, Eugenik ohne Eugenik." Wer etwa in die "California Cryobank" als Samenspender aufgenommen werden will, sollte bestmögliche Gesundheit und "einzigartig individuelle Talente" auf sich vereinen.
Ein Schwerpunkt von Bernards Analyse gilt der Frage, wie Reproduktionstechnologien die Definition von Familie verändern. An die Stelle von "Blutsbande" und genealogischer Herkunft treten nunmehr "biologische Väter" und Halbgeschwister, die vom gleichen Samenspender abstammen. Diese neuen, gemessen am bisherigen Ideal, fragmentierten Familienkonstellationen, so die These Bernards, schwächen nicht die Familie - sie revitalisieren sie.
Freilich ist dieser Prozess von vielen Konflikten begleitet. Plastisch schildert der Autor Beispiele für die Haltlosigkeit von Jugendlichen, als diese erstmals erfahren, dass sie "auf völlig willkürliche Weise Teil einer bestimmten Familie" geworden sind.
International setzt sich immer mehr durch, dass die Praxis der anonymen Samenspende unvereinbar ist mit dem in der UN-Kinderrechtskonvention verbürgten Recht, die eigene Abstammung zu kennen. In Deutschland, so Bernards Kritik, sei von diesem Trend bisher wenig zu spüren.
Hinzu kommt: Gesetzlich und berufsrechtlich bewegen sich Samenbanken in einem "unerfassten Bereich", die Samenspende bleibt im Embryonenschutzgesetz unerwähnt. Es gibt in Deutschland zwar ein IvF-Register, eine Erfassung von Samenspendern aber nicht. Viel Stoff also für ein Fortpflanzungsmedizin-Gesetz, über das seit mehr als 20 Jahren diskutiert wird. (Florian Staeck)
Andreas Bernard: Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie. S. Fischer Verlag, 544 Seiten, Frankfurt 2014.