Pflegebevollmächtigter Andreas Westerfellhaus
"Wir lassen uns nicht mehr vorführen!"
Die Herausforderungen in der Pflege lassen sich nur bewältigen, wenn Ärzte und Pflegekräfte auf Augenhöhe zusammenarbeiten, meint Andreas Westerfellhaus. Wie das gehen könnte, erläutert der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung im exklusiven Interview.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Staatssekretär, die aktuellen Diskussionen in der Pflege gehen meist vom Bedarf an Arbeitskraft aus. Es geistern viele Zahlen durch die Medien. Wie hoch ist der Bedarf wirklich?
Andreas Westerfellhaus: Ich möchte die Frage anders herum angehen. Nämlich, wie viele Menschen schon in der Pflege arbeiten. Es wird meist nicht genau abgebildet, welche Qualifikationen die Menschen dort haben. Sie hören von 1,2 bis 1,4 Millionen Menschen, die professionell in der Pflege arbeiten. Andere gehen von mindestens 4,5 Millionen aus. Da wird aber nicht scharf zwischen professioneller Pflege und ehrenamtlichen Leistungen unterschieden.
Worauf möchten Sie hinaus?
Westerfellhaus: Wenn Sie über die deutsche Ärzteschaft sprechen, ist die Gruppe klar definiert. Es gibt keine Hilfsärzte. In die Pflege versucht die Gesellschaft aber alles Mögliche hinein zu definieren. Das bringt mit sich, dass so viele Verbände und Organisationen für sich in Anspruch nehmen, für die Pflege zu sprechen.
Und wie viele Pflegekräfte fehlen?
Westerfellhaus: Ich kenne die unterschiedlichen Forderungen aus den Krankenhäusern und der Altenpflege. Wenn man seriös vorgehen will, dann muss man beschreiben: Wen meine ich, über wen rede ich? Also zum Beispiel über mindestens drei Jahre ausgebildete Pflegekräfte. Man muss aber auch darüber sprechen, was in diesem Gesundheitswesen berufsgruppenübergreifend erbracht werden soll.
Gibt es also keine objektiven Zahlen?
Westerfellhaus: Wenn ich Ihnen jetzt sagen würde, es fehlen 36.000 oder 55.000 Pflegekräfte, würde daraus ja der Anspruch resultieren, dass ich genau diese Anzahl brauche, um die Lücken zu füllen. Aber die eigentliche Frage ist doch, ob damit das, was wir heute als Defizit an Leistungen beschreiben, dann auch letztendlich erledigt ist. Irgendeine Zahl als gegeben anzunehmen, löst das Problem der Versorgung nicht.
Was dann?
Westerfellhaus: Zusätzlich zu der unbestritten notwendigen Erhöhung der Zahl der Arbeitskräfte in der Pflege müssen wir gleichzeitig die Frage beantworten, was die Pflegekräfte in Zukunft tun sollen und mit welchen Berufsgruppen. Wenn man ernsthaft an Lösungen interessiert ist, dann muss man nicht nur die Zahl zusätzlicher Menschen in den Gesundheitsberufen berücksichtigen, sondern auch eine Neujustierung in der Zusammenarbeit erwägen. Sonst wird das nichts.
Neujustierung der Zusammenarbeit mit den medizinischen Berufen?
Andreas Westerfellhaus (61)
Aktuelle Position: Staatssekretär und Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung.
Ausbildung: Ausbildung zum Krankenpfleger, Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie; Studium der Pädagogik für Gesundheitsberufe; Studium der Betriebswirtschaft.
Beruflicher Werdegang: Lehrer in der Krankenpflegeausbildung; Gründung einer Weiterbildungsstätte für Intensivpflege und Anästhesie; 1993 Schulleitung der Krankenpflegeschule der Westfälischen Kliniken, Gütersloh; 2000 bis 2018 Geschäftsführer der ZAB-Zentrale Akademie für Berufe im Gesundheitswesen GmbH; 2009 bis 2017 Präsident des Deutschen Pflegerats.
Westerfellhaus: Ja, vor allem mit den Ärzten, aber auch mit Physiotherapeuten und anderen Gesundheitsberufen. Ich habe in der Vergangenheit immer wieder Diskussionen erleben müssen, die auf Abgrenzung zielten, statt darauf, wie man auf Augenhöhe zusammenarbeiten kann. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat schon 2007 dringend dazu geraten, die Zusammenarbeit auf andere Füße zu stellen.
Und was ist seither passiert?
Westerfellhaus: Ich war schon damals dabei, als die Ergebnisse vorgestellt wurden, und ich habe schon damals zumindest aus einer Richtung eine penetrante Abwehrhaltung wahrgenommen...
...aus der Ärzteschaft?
Westerfellhaus: Aus der Ärzteschaft. Schon vor sieben Jahren hat der GBA Modellvorhaben zur Übertragung von Heilkunde auf Pflegekräfte auf den Weg gebracht. Wir haben aber kein einziges Modellvorhaben, das in Deutschland läuft.
Sind daran die Ärzte schuld?
Westerfellhaus: Ich habe immer wieder vehemente Widerstände wahrgenommen. Das geht soweit, dass behauptet wird, die Patientenversorgung werde damit gefährdet. Wer so argumentiert, verkennt, dass sich die Pflegeprofession weiterentwickelt hat. Ich behaupte, dass es in Deutschland keine andere Berufsgruppe gibt, die – um ein Beispiel zu nennen – in der Versorgung chronischer Wunden so kompetent ist wie die Pflege.
Gibt es für die Übertragung von Heilkunde ausreichend Rechtssicherheit?
Westerfellhaus: Dass das berufsrechtlich abgesichert werden muss, ist richtig. Das kann man aber regeln. Mit dem Pflegeberufereformgesetz, das ab 2020 gilt, sind dafür die Grundlagen geschaffen. Darin sind erstmals der Pflege vorbehaltene Tätigkeiten aufgeführt. Die Berufsgruppen werden das mit Leben erfüllen müssen.
Ärzte und Pflegekräfte arbeiten doch heute schon nicht isoliert nebeneinander her...
Westerfellhaus: Ich denke, dass die Zusammenarbeit sowohl ambulant als auch stationär in vielen Bereichen hervorragend klappt. Wenn dem nicht so wäre, stünde das System längst vor dem Kollaps. Was ich allerdings wahrnehme, ist, dass vieles in dieser Zusammenarbeit in rechtlichen Grauzonen stattfindet. Man muss sicherstellen, dass etwas nicht nur deshalb funktioniert, weil sich die handelnden Personen kennen und vertrauen.
Gibt es dafür Beispiele?
Westerfellhaus: Wir haben einen heißen Sommer hinter uns. Mich haben Pflegeleiter aus Heimen angefragt, ob es eine legale Möglichkeit gäbe, Menschen, die zu wenig trinken, über Nacht mit einer Kochsalzlösung als Infusion versorgen zu können.
Da muss ich antworten, dass das legal nicht möglich ist. Man muss also den Hausarzt rufen, oder die Menschen ins Krankenhaus einweisen. Oder die Pflegekräfte im Heim machen es doch, weil sie es können.
Ich frage mich halt, warum man die Kompetenzen nicht gleich dort einsetzt, wo sie sind. Wenn so ein Patient ins Krankenhaus kommt, löst er eine DRG aus. Kaum angekommen, delegiert der zuständige Arzt die Aufgabe umgehend an die Krankenschwester weiter. Es fehlt an Berufsautonomie in der Pflege. Das schlägt auch auf die Motivation durch.
Gilt das so auch für die ambulante Versorgung?
Westerfellhaus: Hoch kompetente, selbstständig arbeitende Pflegende in Heimen machen mir die Arbeit als Hausarzt doch auch leichter, weil ich weiß, ich kann mich darauf verlassen. Heute weiß der Arzt aber nicht immer, wer mit welcher Qualifikation gerade Dienst hat. Jede Delegation wird dann zur Einzelfallentscheidung.
Wie weit sollen die Kompetenzen der Pflegekräfte künftig denn gehen?
Westerfellhaus: Ich kann das zuspitzen. Die Krankenschwester ist bei zu Hause gepflegten Menschen meist die erste, die mit einer offenen Wunde konfrontiert wird. Das heißt aber nichts anderes, als dass sie die Wunde diagnostiziert.
Und wenn sie über die Kompetenz verfügt zu entscheiden, welche Wundauflage benötigt wird oder welches Verfahren eingeleitet werden sollte, dann sollte sie die Entscheidung über das therapeutische Verfahren auch treffen dürfen. Und wenn sie das kann, sollte sie auch ein Budget haben, über das sie mit dem Kostenträger abrechnen kann.
Selbstverständlich gehört dazu auch, dass sie den Wundverlauf evaluiert und bei Bedarf andere Berufsgruppen konsiliarisch hinzuzieht. Wenn man es ernst meint mit der Attraktivität des Pflegeberufs, muss berufsrechtlich abgesichert werden, bestimmte Tätigkeiten selbstständig umzusetzen.
Ist dafür die Akademisierung Voraussetzung?
Westerfellhaus: Nein. Ich verstehe die Aufregung um die Akademisierung übrigens nicht. Die Ausweitung der Studienmöglichkeiten bedeutet ja nicht, dass alle studieren. Ein Vorwurf aus der Ärzteschaft lautet, damit würden die Pflegekräfte weg vom Bett qualifiziert.
Wir wissen, dass 90 Prozent der akademisch ausgebildeten Pflegekräfte sehr wohl direkt mit den Patienten und Heimbewohnern arbeiten, nicht zuletzt um die Pflege zu evaluieren und weiterzuentwickeln.In den vergangenen Wochen habe ich erfahren, dass die Akademisierung der Pflege auf viele Ärzte wie ein rotes Tuch wirkt.
In anderen Ländern ist sie gang und gäbe. In Österreich und vielen anderen EU-Staaten kann man Pflegefachkraft mittlerweile überhaupt nur noch studieren.
In Deutschland gilt, dass wir zu berufsrechtlichen Regelungen kommen müssen, die von der Pflegeassistenz über dreijährig Qualifizierte bis hin zu akademisch Qualifizierten reichen. Pflegekräfte haben dabei nicht den Anspruch, kleine Ärzte sein zu wollen. Für mich gilt: Big Nurse, nicht Little Doctor.
Themenwechsel. Die Koalition will die Pflegekosten aus den DRG herausnehmen. Genau dieser Posten kompensiert derzeit die fehlenden Investitionskostenzuschüsse der Länder...
Westerfellhaus: Die Herauslösung der Pflegekosten ist eine logische Konsequenz dessen, dass die in die Fallpauschalen eingepreisten Pflegekosten nicht bei der Pflege angekommen sind, sondern andere Bereiche im Krankenhaus quersubventionieren. Das Problem der Investitionskosten ist damit nicht gelöst.
Ich finde, dafür muss gelten: Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen. Die Ärzteschaft hat schon immer gewusst, dass die Pflegenden die Lückenbüßer der fehlenden Investitionskostenfinanzierung sind.
Ich kann daher nachvollziehen, dass die Krankenhausärzte sich sorgen, dass sie die nächsten Opfer sind, aus deren Etat sich die Krankenhäuser bedienen könnten.
Der Minister hat für eine Übergangszeit Pflegepersonaluntergrenzen für vier Bereiche im Krankenhaus festgesetzt, weil die Selbstverwaltung sich nicht einigen konnte. Gleichzeitig soll aber jede zusätzliche Pflegestelle künftig voll finanziert werden. Macht das die Untergrenzen nicht obsolet?
Westerfellhaus: Nein. Dass man Untergrenzen als rote Haltelinien einziehen muss, die dann auch kontrolliert werden, ist unbestritten. Die Ersatzvornahme des Ministers untermauert, mit welcher Ernsthaftigkeit die Politik hier handelt.
Wir lassen uns nicht mehr vorführen. Sie ist eine klare Botschaft an manche Krankenhausbetreiber und deren Geschäftsführer, die sagen, so schlimm werde es schon nicht kommen. Was die Finanzierung zusätzlicher Stellen angeht, finde ich es merkwürdig, wenn ich gefragt werde, welche Stichtage dafür gelten sollen.
Ich finde das verwerflich. Jede zusätzliche Stelle ist in meinem Verständnis eine Stelle, die man deshalb braucht, um qualitative Versorgung zu gewährleisten.
Wenn ich mich jetzt auf Stichtage zurückziehe, um nicht jetzt einzustellen, sondern erst ab Januar, ist das für mich ein merkwürdiges Verständnis von sicherer Patientenversorgung.
Was, wenn es diese Kräfte auf dem Markt gar nicht gibt?
Westerfellhaus: Wir sind in der Konzertierten Aktion Pflege ganz ernsthaft auf dem Weg, Fachkräfte zu gewinnen. Da reden wir über Zuwanderung, Anerkennungsverfahren, mehr Ausbildung und Refinanzierung von Ausbildung.
Aber ich denke, dass unsere größte Chance auf mehr besetzte Stellen in der Pflege tatsächlich darin besteht, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verändern. Denn es gibt viele vorhandene Pflegekräfte – nur unter den gegeben Bedingungen wollen viele gar nicht mehr in ihrem Beruf oder in Vollzeit arbeiten.
Warum wollen Sie Prämien bezahlen, um Pflegekräfte von Teilzeit zurück in Vollzeit zu holen.
Westerfellhaus: Wir haben viele Fachkräfte in die Teilzeit verloren, wir haben sie an teure Leasingfirmen verloren, wir haben sie ganz aus dem Beruf verloren. Die Frage ist, wie wir dieses Potenzial zurückgewinnen. Dazu habe ich einen Fünf-Punkte-Vorschlag gemacht.
Die Prämie war als Vertrauensvorschuss gedacht. Wenn ihr jetzt zurückkommt, dann arbeiten wir an den anderen Punkten auch. Zum Beispiel an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Ich schlage 80 Prozent arbeiten und 20 Prozent Regeneration vor.
Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung hat ausgerechnet, dass wir so 40.000 Vollzeitäquivalente für die Pflege zurückgewinnen könnten. Die, die sagen, diese Vorschläge seien irrwitzig, sollen bessere machen. Und wenn sie wirklich besser sind, nehmen wir die besseren.
Wie wollen Sie den Arbeitgeberverband Pflege davon überzeugen, dass ein flächendeckender Tarif eine tolle Sache ist?
Westerfellhaus: Herr Brüderle sagt, der Markt wird's richten. Und ich sage, der Markt hat es in den vergangenen 30 Jahren nicht gerichtet. Deshalb brauchen wir die flächendeckenden Tarifverträge. Für die gleiche Arbeit muss man in allen Regionen in Deutschland auch überall gut bezahlt werden.
Wir reden schließlich über eine hohe Teilzeitquote und einen zu 80 Prozent weiblichen Beruf. In ländlichen Regionen gibt es dazu oft keine Alternativen.