Ungleiche Lebensverhältnisse
Zum Hausarzt per Auto in 5 bis 30 Minuten
Der neue „Deutschlandatlas“ der Bundesregierung zeigt: Von gleichwertigen Lebensverhältnissen ist das Land noch weit entfernt. Das gilt auch für die Erreichbarkeit von Praxen und Kliniken.
Veröffentlicht:BERLIN. Gesundheit, Arbeit, Verkehr, Internet: Die Lebensverhältnisse in Deutschland sind nach wie vor von regionalen Unterschieden geprägt.
Die im Band enthaltenen gut 50 thematisch sortierten Karten dokumentieren, dass bei den Einkommens- und Beschäftigungsmöglichkeiten, in der Verkehrs- und Mobilfunkanbindung, aber auch beim Zugang zur Gesundheitsversorgung „erhebliche Disparitäten“ zwischen den Regionen bestehen. Und die lassen sich nicht länger nach den „Himmelsrichtungen“ Ost und West verorten. Vielmehr betreffen sie das ganze Land – Städte wie ländliche Ecken.
Gut besichtigen lässt sich das im Kapitel zur Gesundheitsversorgung. Es enthält zahlreiche Zahlen und Daten zum Versorgungsgrad an Hausärzten, zur Luftrettung oder zur Erreichbarkeit des nächsten Krankenhauses oder der nächsten Apotheke. Häufigster Befund dabei: Die entsprechende Versorgungsschiene ist „grundsätzlich“ gut, regional aber sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Lücken nicht nur in östlichen Flächenländern
Beispiel hausärztliche Versorgung: Im Schnitt ist die Zahl der Hausärzte je Einwohner laut „Deutschlandatlas“ in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie den kreisfreien Städten mit 77 bis 103 Hausärzten je 100.000 Einwohner am höchsten. Zu den ländlichen Kreisen mit relativ vielen Hausarztpraxen pro Einwohner zählen unter anderem Lüchow-Dannenberg, Uelzen und Lüneburg sowie die Landkreise Göttingen und Ravensburg.
Die höchste Dichte von 103 bis 141 Hausärzten je 100.000 Einwohner weisen der Landkreis Starnberg und der Bodenseekreis auf. Den Kontrast dazu bilden dünn besiedelte ländliche Kreise in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, aber auch in Bayern und Niedersachsen. Hier kümmern sich 17 bis 44 Hausärzte um 100.000 Einwohner.
Mit Blick auf die Erreichbarkeit ergibt sich folgendes Bild: Im Mittel kann eine Hausarztpraxis laut Atlas mit dem Auto in sechs Minuten Fahrzeit erreicht werden. 87 Prozent der Menschen in Deutschland würden das sogar in maximal fünf Minuten schaffen, heißt es. Elf Prozent brauchen hingegen zwischen fünf und zehn Minuten. In einigen ländlichen Regionen sind längere Fahrzeiten von bis zu 30 Minuten nötig. Regional gehäuft komme das in dünn besiedelten Ecken in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und im nördlichen Sachsen-Anhalt vor.
Die Frage, wie sich Erreichbarkeit in Minuten darstellt, wenn Patienten auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind, um ihre Hausarztpraxis zu erreichen, spart der Atlas aus. Hierzu heißt es lediglich: „Ohne eine ärztliche Nahversorgung ist für viele Menschen eine gute Busverbindung wichtig.“
„Enge Standortnetz“ in NRW
Zur Erreichbarkeit von Krankenhäusern der Grundversorgung – also Kliniken mit bis zu 250 Planbetten, die mindestens über eine Hauptfach- oder Belegabteilung für Innere Medizin sowie eine weitere Fachabteilung verfügen – stellt der „Deutschlandatlas“ eine durchschnittliche Anfahrtszeit mit dem Pkw von 16 Minuten fest. „Auffällig“ sei das „vergleichsweise enge Standortnetz“ in Nordrhein-Westfalen.
Die „beste“ Pkw-Erreichbarkeit sei in Berlin mit sieben Minuten Anfahrtszeit gegeben. „Größere Lücken“ zeigten sich in ländlichen Randgebieten – insbesondere in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, aber auch in Bayern.
Mit Blick auf die Erreichbarkeit größerer Krankenhäuser der Schwerpunkt- oder Maximalversorgung wiederum geht die Schere zwischen Stadt und Land weit auf. Schnell zu erreichen sind die Häuser für Großstädter, allen voran in Berlin mit im Schnitt 16 Minuten Fahrzeit.
Anfahrtszeiten von über 60 Minuten finden sich laut Atlas demgegenüber in Niederbayern, der Grenzregion zwischen Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie den Regionen Fläming-Elbe-Elster in Brandenburg und Altmühltal in Bayern.
Hausärzteverband setzt auf mehr Delegation
Den Anspruch, Lösungen für die unterschiedlichen Erreichbarkeiten zu bieten, erhebt der Atlas nicht. Laut Bundesregierung stellt er lediglich eine „Wissensgrundlage“ dar, wo Deutschland in Sachen Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse steht.
Dass Handlungsbedarf besteht – auch bei der hausärztlichen Versorgung –, steht für Robert Festersen, Geschäftsführer des Deutschen Hausärzteverbands, außer Frage: „In Ost-, aber auch in Westdeutschland gibt es Regionen, in denen der Weg zu einer Hausarztpraxis weit geworden ist. Umgekehrt müssen immer mehr Patienten in der Hausarztpraxis versorgt werden.“
Ein gangbarer Weg, dort eine qualitative Versorgung zu sichern, sei die verstärkte Delegation etwa von Hausbesuchen an besonders qualifiziertes Praxispersonal. Die hausärztliche Versorgung durch „neue Gesundheitsberufe“ ersetzen zu wollen, helfe dagegen nicht weiter, betont Festersen.
„Das wäre eine Scheinlösung, die von Patienten in ländlichen Regionen zu Recht als Benachteiligung im Verhältnis zu den Gebieten mit lückenloser hausärztlicher Versorgung empfunden werden dürfte.“