Chirurg in der Regressfalle

Ein niedergelassener Chirurg droht in die Regress-Mühlen der KV Niedersachsen zu geraten. Mit seinen Physio- und Ergotherapie-Verordnungen hat er das Budget um 200 Prozent überschritten.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Bei alten Patienten sowie bei orthopädischen Schäden geht meist kein Weg an einer Physio- und Ergotherapie vorbei.

Bei alten Patienten sowie bei orthopädischen Schäden geht meist kein Weg an einer Physio- und Ergotherapie vorbei.

© Hemera / AbleStock / Thinkstock

RHAUDERFEHN. Kürzlich hat der niedergelassene Chirurg Dr. Thomas Baxmann seinen Patienten einen offenen Brief geschrieben.

Er habe sein Heilmittelbudget 2011 um mehr als 200 Prozent überschritten "und soll nun 250.066 Euro zurückzahlen". Kurz: Baxmann droht der Regress.

Baxmann arbeitet als angestellter Arzt in einem Medizinischen Versorgungszentrum im ostfriesischen Ostrhauderfehn. Für 2011 wurden in Niedersachsen knapp 371 Millionen Euro Heilmittelbudget verhandelt.

Baxmanns Heilmittelrichtgröße beträgt nur 13,49 Euro, klagt der Chirurg, "aber eine Einheit Krankengymnastik kostet 12,75 Euro. Das bedeutet, dass ich sieben Patienten behandeln muss, um einem Patienten sechs Mal Krankengymnastik verordnen zu können."

Die Hälfte seiner Patienten braucht Baxmanns Einschätzung nach Physiotherapie. "80 Prozent meiner Patienten sind orthopädische Patienten, alte Patienten und chronisch kranke Menschen. Da geht oft kein Weg an Physio- und Ergotherapie vorbei."

Und die hat er auch stets verordnet. Klar, dass der Chirurg so in die Klemme geriet. Sein Budget für Heilmittel beträgt 167.000 Euro pro Jahr; 2011 hat er um mehr als das Doppelte überschritten.

Und dann kam die Regressandrohung von der KV Niedersachsen. "Leider kann ich nach Angaben der KV Niedersachsen auch im Vorfeld keine Praxisbesonderheiten geltend machen", so Baxmann.

Wohlgemerkt: In Baxmanns Fall, wie in so vielen anderen, handelt es sich (noch) nicht um einen Regress, sondern um eine Regressandrohung.

Dem Chirurgen soll signalisiert werden, dass er bei den Verordnungen in den roten Bereich rutscht. Wie dem auch sei - Baxmann war geschockt und verärgert.

Patienten sollen Kosten mit ihrer Kasse selber abrechnen

In seinem Brief bittet Baxmann seine Patienten darum, sich bei Ihrer Kasse "konkret eine Übernahme der Kosten für eine notwendige Physiotherapie wegen Bandscheibenschadens, chronischer Nacken-Kopfschmerzen, Schulterenge-Syndromen, Fersenbein, Tennisarm, nach Operationen an Knochen und Gelenken oder für eine notwendige Ergotherapie wegen komplexer Handverletzungen bzw. Handoperationen schriftlich bestätigen" zu lassen.

Die Alternative sei, "dass Sie die Kosten für Physiotherapie selber übernehmen und mit Ihrer Krankenkasse selber abrechnen", schreibt Baxmann. Eben das hat der Chirurg auch mehreren Patienten gesagt.

"Ich habe ihnen ein Privatrezept ausgeschrieben und sie damit zu ihrer Kasse geschickt. Schließlich behaupten die Kassen, dass sie alles zahlen, was der behandelnde Arzt verordnet!"

Die Reaktion folgte auf den Fuß: Die DAK und die Barmer haben sich bei der Bezirksstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) in Aurich über den Kollegen wegen rechtswidrigen Verhaltens beschwert.

Das bestätigte die KV Niedersachsen. "Damit haben die Kassen auf die Beschwerden zweier ihrer Versicherten reagiert", sagt Detlef Haffke, Sprecher der KV Niedersachsen.

Er betonte, dass Baxmann GKV-Patienten keine Krankengymnastik auf Privatrezept verordnen dürfe.

Baxmann sei vielmehr dazu verpflichtet, die Verordnungen komplett auf die eigene Kappe - also das eigene Budget - zu nehmen - und die Konsequenzen zu tragen. "Das wurde ihm in einer Beratung mitgeteilt", so Haffke weiter.

Beratung der KVN war "Schuss vor den Bug"

Bevor Baxmann zahlen muss, hat er die Pflicht, sich bei seiner KV beraten zu lassen. "Das Ganze war aber keine Beratung, sondern eine Belehrung und ist als Verunsicherung gemeint, als Schuss vor den Bug", ärgert sich der Chirurg.

Allerdings konnte er andererseits auch seine Verordnungen plausibler machen.

"Ich habe zwei Wochen das Verordnungsgeschehen mit Heilmitteln in meiner Praxis rausgeschrieben. Da hat sich ganz deutlich gezeigt, dass meine Patienten die therapeutischen Behandlungen brauchen", betont Baxmann.

In vielen Fällen seien sie weitaus hilfreicher als eine medikamentöse Therapie.

Unterdessen rudert die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen bei den Regressandrohungen der vergangenen Monate zurück. Unter der Überschrift "Vollbremsung" kommentiert sie das eigene Vorgehen.

Die KV hatte im April 2012 veröffentlicht, dass insgesamt 1471 Praxen in Niedersachsen eine Regressandrohung wegen Überschreitung ihrer Heilmittelbudgets aus dem Jahr 2011 erhalten haben. Das Echo war gewaltig.

"Die KV hielt diese Informationen (...) unbedingt für geboten, um die Einhaltung des Regionalpakets für das laufende Verordnungsjahr 2012 nicht zu gefährden", hieß es.

In Niedersachsen greift ein tatsächlicher Regress bei Heilmitteln dann, wenn sowohl die gemeinsame als auch die praxisindividuelle Haftungsgrenze überschritten wird. Bei Chirurg Baxmann ist die Drohung offenbar angekommen.

"Was soll ich jetzt machen?", fragt er sich. "Ich werde auf jeden Fall weiterverordnen, dazu gibt es keine Alternative, weil die Patienten Krankengymnastik und Ergotherapie brauchen. Aber ich werde in diesem Jahr weniger verordnen müssen als 2011."

Das Nachsehen haben im Zweifel die Therapeuten und ihre Patienten.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Lustkiller auf Funktionärsebene

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Kommentare
Norbert Meyer 16.07.201213:36 Uhr

BARMER hat es nötig, gerade die Kasse fällt neuerdings durch exhorbitante Absetzungen auf!

Was mache ich denn als physiotherapeutischer Leistungserbringer, wenn die Verordnung von der Kasse nicht vergütet wird, zu den noch nachträglich nach Jahren und die Prüfstelle BARMER GEK 90492 Nürnberg über " außerhalb des Regelfalles" oder Hausbesuche mit Hintergrund außerhalb meiner "ökonomischen Wegstrecke" penetrant ignoriert.
Bei einem Apoplex Pat. seit 1997 Barmer die angesetzte Doppelbehandlung verweigert, die 15 - 20 min. KG Behandlungszeit benötigte ich schon für den Zugang und Positionierung des Pat.mit Toilettengang pflichtgemäss!
Die Verlust über Jahrzehnte sind nicht kompensierbar!, und denn anrufenden Sohn eine absolut andere Telefonauskunft erteilte, wie in der Realität praktiziert;
Mir gegenüber Begründungen lt. HMR / Richtlinien uam., ich bleibe auf den Absetzungen sitzen, Verlust unter Freiberuflern sind steuerlich nicht absetzbar, das bedeutet jeder Pat. aus dieser Kasse wird zum Behandlungs-kosten-Risiko folglich SELBSTZAHLERPRINZIP oder ?

Alfred Besand 13.07.201209:15 Uhr

So könnten Sie einem Regress vorbeugen!

Sie sollten auf jeden Fall eine ausführliche Stellungnahme gegen die Regress Androhung schreiben. Die Gemeinsame Prüfungseinrichtung, sollte diese einen Regress festsetzen,Ihre Stellungnahme berücksichtigen muss. Ein Fachgruppenvergleich lediglich mit der Fachgruppe Chirurgen vorzunehmen, bei 80% Orthopädischen Diagnosen, ist sicherlich nicht
gerechtfertigt.
Auch auf Einsparungen sollten sie hinweisen (Medikamente, SSB, etc.), nicht nur hinweisen, sondern die Kompensationen aufzeigen und nachvollziehbar darlegen. Gezielte Überweisungen an Sie dokumentieren, wie z:B. bestimmten Krankheitsbildern, Behandlungen nach stationärem Krankenhausaufenthalt, nach ambulanten Operationen und in Ihrer Stellungnahme namentlich und von den Kosten her, festhalten.
Eine kleine Hilfestellung an Sie, die Ihnen helfen soll, damit Sie einem Regress vorbeugen können.
Aerzteberatungrlpmainz.de
Alfred Besand 13.07.2012

Dr. Thomas Georg Schätzler 12.07.201211:03 Uhr

Vorauseilender Gehorsam?

Vor vielen Jahren hatte ich eine Regressandrohung des im KV-Bereich Westfalen-Lippe tätigen "Gemeinsamen Prüfungsausschuss", in dem KV- und Kassenvertreter gemeinsam sitzen. Meine Lungenfunktions-Untersuchungsziffern lägen 800 Prozent über meiner Vergleichsgruppe der ''Allgemeinärzte'' wurde behauptet. Nach Rücksprache wurde mir bedeutet, man habe mich mit a l l e n Allgemeinärzten verglichen: Natürlich auch mit denen, die in ihren Praxen weder ein Lungenfunktionsgerät hatten, es anwenden konnten, geschweige denn es abzurechnen wussten.

Viele Chirurgen und Orthopäden drücken derzeit, quasi in vorauseilendem Gehorsam, den Durchschnitt ihrer Heil- und Hilfsmittelverordnungen. Manche verweigern diese Verordnungen ganz. Engagierte Fachkollegen, die dann weniger Medikamente verordnen und schneller Restitution und Arbeitsfähigkeit erreichen, müssen darunter leiden.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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