Europäischer Gesundheitskongress
Digitalisierung: Rückenwind durch die Corona-Pandemie nutzen!
Mit einem weiteren Digitalisierungsgesetz baut die Politik noch mehr Druck in Richtung Modernisierung des Gesundheitswesens auf. Die nächsten zwölf Monate dürften ambulant wie stationär dynamisch werden.
Veröffentlicht:München. Ein paar Monate durchatmen vor der nächsten Bundestagswahl? Für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ist das keine Option. Seit einigen Tagen liegen die Eckpunkte für ein weiteres Digitalisierungsgesetz vor, das die Telemedizin weiter ausbauen, digitale Gesundheitsanwendungen stärken, digitale Pflegeanwendungen neu einführen und die Telematikinfrastruktur weiterentwickeln will.
„Es gibt diese neue Gesetzesinitiative auch deswegen, weil wir nicht die Zeit haben, zu warten“, sagte BMG-Abteilungsleiter für Digitalisierung Dr. Gottfried Ludewig beim Europäischen Gesundheitskongress, der in diesem Jahr rein digital stattfindet. Fortschritt werde nicht im SGB V definiert, sondern er finde statt. Es bestehe weiterhin die Gefahr, dass er von außen übergestülpt werde, wenn das deutsche Gesundheitssystem nicht selbst die Steuerung übernehme.
Für die kommenden Monate erwartet Ludewig „spürbare Sprünge im Bereich der Versorgung“. Die elektronische Patientenakte startet Anfang 2021. Im Laufe desselben Jahres werden elektronische AU-Bescheinigungen eingeführt, und die Pflicht zum E-Rezept kommt dann Anfang 2022.
All das wird für die ambulanten Ärzte relevante Veränderungen bringen. Aber auch die Krankenhäuser seien jetzt gefordert, den Rückenwind des durch die Pandemie ermöglichten Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) zu nutzen.
„Spielräume, Innovationen auszuprobieren“
Dr. Katharina Ladewig vom Europäischen Institut für Innovation und Technologie im Gesundheitswesen (EIT) sieht dafür gute Voraussetzungen: „Das KHZG schafft Spielräume, Innovation auszuprobieren. Jeder, der die Möglichkeit hat, sollte diese Chance ergreifen.“
Dass die Krankenhäuser dazu durchaus bereit sind, machten der kaufmännische Vorstand der Universitätsmedizin Mainz, PD. Dr. Christian Elsner, und der Chief Digital Officer des Klinikums Braunschweig, Dr. Raimar Goldschmidt deutlich. Beide Einrichtungen gehen aktuell mit neuen digitalen Anwendungen an den Start.
In Mainz ist das eine App, mit der Patienten die Daten für ihre Pflegeanamnese schon zu Hause eingeben können. Diese würden im internationalen FHIR-Standard gespeichert und stünden damit für andere IT-Systeme interoperabel zur Verfügung, so Elsner.
Am Klinikum Braunschweig wurde gerade erst Anfang dieser Woche die App „Babybauch“ gelauncht. Sie ist jetzt in den Appstores von Apple und Google verfügbar. Es handelt sich um eine Plattform für Schwangere, die es erlaubt, sich mit den unterschiedlichen Anlaufstellen von der Klinik über die Hebamme bis zur Volkshochschule zu vernetzen und mit ihnen digital zu kommunizieren. Umgekehrt können Leistungserbringer im Bereich Schwangerschaft attraktive Angebote vorstellen.
Standardkommunikation läuft immer noch via Fax
„Ich denke, das zeigt, worum es geht, nämlich darum, Netzwerke aufzubauen“, so Goldschmidt. Das betreffe auch zum Beispiel den Bereich der stationären Nachsorge, wo das Faxgerät weiterhin das Standardkommunikationsmedium sei. Am Ende müsse der Patient das Gefühl haben, dass trotz sektoraler Versorgung alle Beteiligten gemeinsam agieren.
Goldschmidt machte aber auch deutlich, dass Patienten-Apps nur ein kleiner Teil der Digitalisierung des stationären Sektors sind. Der digitale Reifegrad einer Einrichtung hängt weniger von Apps als vielmehr davon ab, wie umfangreich Basisinfrastrukturen digitalisiert sind und wie interoperabel die IT-Lösungen eines Krankenhauses sind – nach außen wie nach innen.
„IT-Projekte nur mit PR-Faktor eher kontraproduktiv“
Das KHZG mit seiner Förderung von IT-Investitionen kann hier helfen, aber nur dann, wenn es für eine grundlegende IT-Modernisierung genutzt wird – und nicht einfach wieder nur für das nächste IT-Projekt mit hohem Public-Relations-Faktor. Das war auch Goldschmidts Botschaft in Richtung Ludewig: „Wir müssen über 2021 und 2022 hinausdenken, sonst erzeugen wir einfach nur ein kurzes Strohfeuer.“
Interoperabilität nach innen und außen ist auch die Voraussetzung dafür, dass medizinische Einrichtungen pseudonymisierte Patientendaten sammeln und zur Verfügung stellen können.
Elsner sieht hier eine wichtige Rolle gerade der Universitätsmedizin, die sich derzeit im Kontext der Medizininformatik-Initiative bemüht, entsprechende Infrastrukturen unter Einhaltung aller Datenschutzanforderungen aufzubauen: „Es geht nicht um möglichst viele, sondern um möglichst gute Daten, mit denen wir KI-Systeme entwickeln und Algorithmen trainieren können.“ Solche Strukturen in Deutschland aufzubauen, sei eine große Chance nicht nur für die Universitätsmedizin, sondern letztlich für das ganze Land.
Entlastung von lästigen Routinearbeiten
Das sah auch Dr. Stefan Schaller von Siemens Healthineers so: „KI kann von lästigen Routinearbeiten entlasten und dem Arzt helfen, bessere Qualität effizienter anzubieten. Letztlich bedeutet das mehr qualitative Zeit für den Patienten.“
Leider sei es in Deutschland für Industrieunternehmen schwieriger als anderswo, an die für das Algorithmentraining nötigen medizinischen Datensätze zu kommen. Dies gelte nicht zuletzt für das von der Politik stark erweiterte Forschungsdatenzentrum beim BfArM, zu dem private Unternehmen gemäß Digitale Versorgung Gesetz und später auch Patientendatenschutzgesetz keinen direkten Zugang bekommen sollen.
Für Schaller ist das, wie für viele andere Industrievertreter, unverständlich: „Wenn wir schauen, welche Innovationen beim Patienten ankommen, dann sind das zum großen Teil Innovationen, die in der Industrie entstehen.“