Interview

Fortschrittsbeschleunigungsgesetz gefragt

Für die deutsche Medizintechnikbranche ist nicht nur die novellierte EU-Medizinprodukteverordnung eine Herkulesaufgabe. Dr. Marc-Pierre Möll, Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnik, plädiert im Interview für mehr ministerielle Aufmerksamkeit für die Branchenbelange.

Matthias WallenfelsVon Matthias Wallenfels Veröffentlicht:
Die deutsche MedTech-Branche setzt auf die Digitalisierung, um mit mehr Tempo und entsprechenden gesetzlichen Leitplanken schneller die Hürden im Wettbewerb und im Ringen um die Kostenerstattung zu nehmen.

Die deutsche MedTech-Branche setzt auf die Digitalisierung, um mit mehr Tempo und entsprechenden gesetzlichen Leitplanken schneller die Hürden im Wettbewerb und im Ringen um die Kostenerstattung zu nehmen.

© neoinkdesign / stock.adobe.com

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Möll, die deutsche Medizintechnikbranche hat 2018 erstmals die 30-Milliarden-Euro-Marke beim Umsatz geknackt, sie rangiert nach der US-amerikanischen Konkurrenz weltweit auf Platz zwei. Nun hat sich Ihr Bundesverband Medizintechnologie (BVMed) vor Kurzem explizit für einen zeitnahen Neustart des im Koalitionsvertrag vorgesehenen „Strategieprozesses Medizintechnik“ ausgesprochen. Wo drückt der Branche der Schuh?

Dr. Marc-Pierre Möll: Es stimmt, unsere deutsche Medizintechnikbranche ist weltweit Nummer zwei – noch. Aber es herrscht großer Druck im Kessel. Wir stehen im internationalen Wettbewerb. Neben den USA hat vor allem China die Medizintechnik und die Künstliche Intelligenz (KI) inzwischen als strategische Wirtschaftsbereiche identifiziert und fördert sie massiv staatlich. Die chinesische Branche wird zunehmend innovativer und wettbewerbsfähiger. Hinzu kommen im europäischen Markt die steigenden regulatorischen, kostenintensiven Anforderungen durch die EU-Medizinprodukteverordnung MDR. Parallel steigen die Personalkosten, und die Sachkosten sinken. Wir müssen uns ganz grundsätzlich die Frage stellen, wie künftig Leistungen sachgerecht vergütet werden.

Was wollte der Strategieprozess ursprünglich erreichen?

Möll: Vor sieben Jahren, als der Strategieprozess Medizintechnik gemeinsam von den Bundesministerien für Forschung (BMBF), Gesundheit (BMG) und Wirtschaft (BMWi) auf die Schiene gesetzt worden war, sollte es um die Zukunftssicherung für die deutschen Medizintechnikunternehmen gehen. Dabei ist wichtig zu wissen: 93 Prozent der Unternehmen haben weniger als 250 Mitarbeiter, sind also kleine und mittelständische Unternehmen (KMU), darunter viele Familienunternehmen. Auf die Fahne geschrieben hatte man sich unter anderem die Einführung einer bedarfsorientierten Medizintechnikforschung, den Ausbau der Unterstützung und Beratungsmöglichkeiten für forschende KMU, die Schaffung einer Erprobungsmöglichkeit für innovative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie die Stärkung klinischer Forschung für die Branche.

Dr. Marc-Pierre Möll

© BVMed / René Staebler

  • Aktuelle Position: Seit April 2019 Geschäftsführer des Bundesverbandes Medizintechnologie (BVMed) sowie Geschäftsführer von MedInform, dem Informations- und Seminarservice des BVMed
  • Ausbildung: Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Soziologie, Promotion zum Dr. phil. in Bonn, Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin
  • Karriere: 1991 bis 2008 Persönlicher Referent und Büroleiter von zwei Bundestagsabgeordneten; 2008 bis 2019 Leiter „Regierung und Parlament“ beim Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV)

Und wo stehen wir aus Ihrer Sicht jetzt?

Möll: Die Herausforderungen sind klar analysiert, die Ziele klar beschrieben. Es mangelt an konkreten Schritten der Umsetzung. Die ursprüngliche Dynamik ist verflogen. 2014 und 2016 fanden noch die Nationalen Strategiekonferenzen „Innovationen in der Medizintechnik“ statt. 2016 wurde aus dem Strategieprozess das Fachprogramm Medizintechnik des BMBF. 2017 fand ein Expertengespräch zur Telemedizin statt. Im Ergebnis wurde viel besprochen, aber zu wenig angepackt und umgesetzt.

Im Moment erleben wir in puncto Strategieprozess einen Stillstand. Obwohl dessen Fortschreibung im Koalitionsvertrag verankert ist, herrscht aus den beteiligten Ministerien Funkstille. Wir müssen schneller, zielgenauer und mutiger werden. Und vor allem: Wir müssen endlich anfangen, die Dinge umzusetzen!

Aber de facto tut sich doch eine Menge: So dürfte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) der deutschen Medizintechnikbranche Flügel verleihen, wenn die innovativen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) im avisierten „DigitaleVersorgung“-Gesetz (DVG) erstmal eine gesetzliche Grundlage haben.

Möll: Ohne Frage, das DVG enthält gute Ansätze. Aber auch hier sollten wir einen Schritt weiter gehen. Faktisch gewährt die geplante Regelung nur den Anspruch auf Medizinprodukte mit einfachster digitaler Technologie. Die Möglichkeiten, die digitale Medizinprodukte der Klassen IIb und III – beispielsweise Systeme zur telekardiologischen Überwachung von Schrittmacherpatienten oder Apps für Patienten mit Gelenkimplantaten – zur Versorgungs- und Prozess-Verbesserung bieten, können so nicht genutzt werden. Nochmals: Wir müssen mutiger werden, wir müssen auch mal ohne Geländer denken.

Was wir in Deutschland – und das trifft nicht nur für das Gesundheitswesen zu – brauchen, sind zukunftsgerichtete Weichenstellungen und nicht nur das Drehen an einzelnen Stellschrauben. Wir müssen uns fragen, ob das ganze Setting noch passt. Unsere Unternehmen verlieren im internationalen Vergleich ihren Vorsprung, gerade im Hinblick auf das innovative Zusammenspiel von KI und Medizintechnik.

Die deutschen Medizintechnikunternehmen stehen vor drei großen Herausforderungen. Es finden gerade massive technische Umbrüche statt, die internationale Konkurrenzsituation wird immer schärfer und zuhause türmen sich zudem die regulatorischen Anforderungen. DRG, GBA, MDR sind gut gemeint, bremsen aber unsere Innovationskraft. Wir brauchen ein echtes Fortschrittbeschleunigungsgesetz.

Die gesamte europäische Medizintechnikbranche warnt bereits seit einiger Zeit vor absehbaren Engpässen bei neu zuzulassenden Medizinprodukten, da es auf einen Engpass und damit auf lange Wartezeiten bei den Zertifizierstellen, den Benannten Stellen (BS), kommen wird. Haben Sie im politischen Berlin und Brüssel Gehör gefunden?

Möll: Das BMG ist sensibilisiert für die MDR-Problematik. Jens Spahn, der Minister persönlich, hat auf der jüngsten Sitzung des Europäischen Rates „Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz“ (EPSCO) die schleppende Umsetzung der MDR deutlich angesprochen. Es drohen Versorgungslücken, wenn wir hier nicht schneller und flexibler agieren.

Das vom Bundesfinanzministerium avisierte „Forschungszulagengesetz“ sieht künftig die steuerliche Förderung innovationsgetriebener Unternehmen von jährlich je 500 000 Euro vor. Hilft das Ihrer Branche?

Möll: Grundsätzlich begrüßen wir die steuerliche Forschungsförderung. Sie war oft angekündigt und lange überfällig. Sie deckt aber auch nicht alle Bereiche ab. Es ist gut, dass die anderen Förderinstrumentarien bestehen bleiben. Das große Problem, das die KMU aktuell haben, ist, dass sie bereitgestellte Fördergelder oft nicht abrufen können, da die Rahmenbedingungen für sie nicht stimmen. Fördergelder müssten zielgenauer ausgerichtet sein.

Ein Beispiel: Mit Inkrafttreten der MDR sind die Medizintechnikunternehmen verpflichtet worden, sämtliche Daten zu ihren Produkten auf dem digitalen Wege in die zentrale Datenbank EUDAMED zu schaffen. In manchen kleinen Unternehmen sind derzeit bis zu 40 IT-Fachkräfte nur damit beschäftigt, diese digitale Herausforderung für Hunderte oder gar Tausende Produktvarianten zu stemmen. Hier würde ein spezielles KMU-Förderprogramm helfen.

Sie appellieren an die Berliner Politik, Weichenstellungen vorzunehmen. Wo müsste denn aus Ihrer Sicht strategisch neu justiert werden?

Möll: Die Gesundheitswirtschaft stellt heute mit 7,6 Millionen Beschäftigten und 12,1 Prozent BIP-Anteil eine der großen Schlüsseltechnologien in Deutschland dar. Getrieben wird sie vom rasanten technologischen Wandel. Dieser führt aber zwingend dazu, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – der Ausbildungsweg für zentrale Hybridberufe in der MedTech-Branche geebnet werden muss. Wir wollen Schüler und Studenten für die MedTech-Branche begeistern und benötigen ein Zukunftskonzept für Nachwuchsgewinnung.

Für die Qualifizierung von Mitarbeitern und Quereinsteigern benötigen wir neue Aus- und Fortbildungskonzepte. Wie einst bei den Mechatronikern, besteht heute immenser Bedarf an Fachkräften mit einem kombinierten medizin- und bio-, nano- oder IT-technischen Know-how. Hier ist das BMBF gefragt, solche Ausbildungspfade in Konsultation mit der Industrie zu schaffen – im dualen wie im akademischen Bereich. Ansonsten schlägt der bereits bestehende Fachkräftemangel voll auf die Branche durch.

Ihre Branche klagt immer wieder über den besonders für KMU zeitaufwändigen und kostenintensiven Weg ihrer innovativen Lösungen in die Kostenerstattung. Was wäre die Alternative?

Möll: Wir müssen die Nutzenbewertung von Medizinprodukten und den Zugang in die Regelversorgung patientenorientiert neu und schneller gestalten. Die aktuelle Nutzenbewertung und die GBA-Verfahren basieren auf Instrumenten aus dem letzten Jahrhundert. Was wir brauchen, ist ein beschleunigender Prozess inklusive Bewertungs- und Erstattungssystemen, die dem Entwicklungstempo im digitalen Zeitalter angemessen sind.

Klinische RCT-Studien sind zum Beispiel gerade für Anbieter sehr spezifischer Lösungen, die nur für die Anwendung bei sehr wenigen Patienten angedacht sind, schlichtweg unrealistisch und undurchführbar. Hier sollte die Real-World-Evidence ausreichend sein, wie sie zum Beispiel Register bieten. Besonders KMU brauchen Planungssicherheit.

Deutschland übernimmt zum zweiten Halbjahr 2020 die EU-Ratspräsidentschaft. Erhoffen Sie sich dadurch für die Medizintechnik neue Impulse?

Möll: Deutschland ist der zweitgrößte MedTech-Hersteller der Welt. In vielen Bereichen sind unsere Unternehmen Weltmarktführer. Wir haben Hidden Champions. 64 Prozent der Produkte gehen in den Export. Soweit wir wissen, soll die globale Gesundheit ein zentrales Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft werden.

Wir suchen den intensiven politischen Dialog, um sicherzustellen, dass den Möglichkeiten der Medizintechnik für eine bessere Patientenversorgung, für mehr Lebensqualität sowie Selbstständigkeit und damit soziale Teilhabe höchste Priorität eingeräumt wird – deutschland-, europa- und weltweit.

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