Rat zu Regulierung
Start-ups vs. das Gesetz
Die novellierte EU-Medizinprodukteverordnung sorgt dafür, dass in Zukunft mehr Gesundheits-Apps als digitale Medizinprodukte in höhere Risikoklassen als bisher eingestuft werden. Start-ups bereitet das Kopfzerbrechen. Ein staatliches Innovationsbüro könnte die Lösung sein.
Veröffentlicht:BERLIN. Immer mehr Health-Start-ups basteln an digitalen Lösungen wie Gesundheits-Apps zur Unterstützung des medizinischen Versorgungsalltags. Wie der Digitalverband Bitkom im Zuge einer Untersuchung der gesundheitsspezifischen Jungunternehmer prognostiziert, dürften die allerdings anspruchsvoller sein als bisherige Angebote.
Deshalb sei damit zu rechnen, dass in Zukunft mehr Apps als digitale Medizinprodukte in höhere Risikoklassen als bisher eingestuft werden. Grund dafür ist die im Mai vergangenen Jahres im EU-Amtsblatt veröffentlichte und ab dem 26. Mai 2020 geltende, neue europäische Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation/MDR).
Die mit in Folge des Skandals um minderwertige, mit Industriesilikon gefüllte Brustimplantate des inzwischen insolventen französischen Anbieters Poly Implant Prothèse (PIP) verschärften Regulierungsmechanismen auf europäischer Ebene führen zu einer höheren Risikoeinstufung der jeweiligen Medizinprodukte.
Standalone-Software neu geregelt
Wie Bitkom betont, kommt dann eine neue Regel für Standalone-Software – Software, die nicht Bestandteil eines Medizinproduktes, wie beispielsweise eines Computertomografen, ist – zur Anwendung. "Anders als dies bisher der Fall war, wird dabei nicht mehr nur die direkte Interaktion des Medizinproduktes für die Einstufung in eine Risikoklasse herangezogen, sondern neu die Kritikalität der Information, die diese Software generiert", heißt es von Bitkom-Seite.
Abhängig vom Risikopotenzial – beispielsweise falscher Informationen als Basis für diagnostische oder therapeutische Entscheidungen – könnten Apps bis zur Klasse III, der höchsten Risikoklasse, eingestuft werden. Von den medizinischen Apps generell abzugrenzen sind, so Dr. Philipp Wien, beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in Berlin Leiter des Referats Gesundheitswirtschaft, Lifestyle-Apps, die nicht für diagnostische oder therapeutische Zwecke bestimmt sind.
Regeln bringen Herausforderung mit sich
Für Wien befinden sich die Health-Start-ups in einer spezifischen Dilemmasituation, die zu erheblichen Innovationshemmnissen führen kann: Sie müssen den – noch im Detail unklaren – neuen und höheren Anforderungen durch die MDR genügen, eine Benannte Stelle finden und gleichzeitig bereits die komplexe Kostenerstattungsebene im Blick haben.
Engpässe sind in Zukunft in puncto MDR absehbar, da derzeit europaweit nur rund 30 von 59 Benannten Stellen einen Antrag auf Neubenennung nach der MDR gestellt haben, bei denen eine Zertifizierung der entsprechenden App beantragt werden kann. Mit den ersten Benennungen sei nicht vor Mitte 2019 zu rechnen.
Durch die neuen Klassifizierungsregeln wächst, so Wien, jedoch die Zahl der Produkte, die unter die Kontrolle der benannten Stellen fallen, stark an. Lange Wartezeiten für Start-ups seien daher wahrscheinlich. Auf der anderen Seite drücke den Jungunternehmern der finanzielle Schuh, werde ihre Innovation nicht schnell in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen – hier stelle der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die große Hürde dar.
Innovationsbüro als Lösung?
Wien schlägt zur umfassenden beratenden Unterstützung der Jungunternehmer die Etablierung eines neuen Innovationsbüros vor, das wesentlich über das Angebot des bereits beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelte Innovationsbüro hinausgeht, das bei Medizinprodukten nicht zur Kostenerstattung berate.
"Ein wesentlicher Grund dafür, dass die digitale Transformation im Gesundheitsbereich nicht wirklich vorankommt, ist ein bislang fehlendes zentrales sozialrechtliches Bewertungs- und Zugangsverfahren, das sich mit den Besonderheiten von digitalen Medizinprodukten auseinandersetzt und eine systematische Integration dieser Produkte in die Regelversorgung sicherstellt. Stattdessen gibt es nur vereinzelte ‚Insellösungen‘ aufgrund von Selektivverträgen", spricht Wien einen weiteren wunden Punkt an.
Wien sieht das angedachte, zweite E-Health-Gesetz als geeignetes Vehikel an, geeigneten Medizin-Apps den Weg in die Regelversorgung zu ebnen. "Es sollte ein eigenständiges sozialrechtliches Zugangs- und Bewertungsverfahren für CE-zertifizierte digitale Medizinprodukte beim GBA implementiert werden, bestenfalls sektorenübergreifend ausgestaltet", schlägt der Fachmann vor.
Er schränkt zugleich ein: "Die gegenwärtige Organisations- und Entscheidungsstruktur des GBA birgt jedoch die Gefahr, dass innovative Leistungen keinen Einzug in die Regelversorgung erhalten." Deshalb sollte die Einbeziehung von Unternehmen insgesamt verbessert werden, fordert er.
"Die zuständigen Behörden sollten einen kontinuierlichen Dialog mit Start-ups sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) etablieren, zum Beispiel in Form eines umfassenden Beratungsangebotes. Neben dem GBA und dem Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität (IQWiG) ist auch das BfArM einzubeziehen", appelliert Wien.
Die Health-Start-ups könnten dabei frühzeitig die regulatorischen Anforderungen bei der Entwicklung und Vermarktung ihrer Produkte berücksichtigen. Als Vorbild könnte laut Wien zum Beispiel die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) dienen, die – analog zum BfArM – als Zulassungsbehörde der Finanzindustrie auch ein Beratungsangebot für FinTech-Start-ups bietet.
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