Medizintechnik

Hippe Hörgeräte over the counter?

Herkömmliche Hörapparate könnten bald vom Markt verschwinden. Die Grenze zur Unterhaltungselektronik verschwimmt. Gibt es bald OTC (over the counter)-Hörhilfen?

Von Thomas Meißner Veröffentlicht:
Kabellose Vernetzung und Cloud-Anbindung – der technologische Wandel bei Hörgeräten hat schon längst begonnen. (Symbolbild)

Kabellose Vernetzung und Cloud-Anbindung – der technologische Wandel bei Hörgeräten hat schon längst begonnen. (Symbolbild)

© peterschreiber.media / stock.adobe.com

Brüssel. Der technologische Wandel werde „herkömmliche Hörapparate vom Markt fegen“, ist Professor Olaf Michel vom Universitair Ziekenhuis in Brüssel überzeugt. „Die Unterhaltungselektronik sieht bereits einen neuen Markt für ihre Lifestyle-Produkte durch die Integration selbstanpassender Hörgeräte mit intelligentem, rechnergestützten Sprachverstehen“, meint der HNO-Arzt (HNO-Nachrichten 2020; 50(4): 18-21).

Es geht also nicht mehr nur um den Ausgleich eines Hördefizits, sondern um Zusatzfunktionen wie per Smartphone vorgeschaltetem Hörtest, um aktive Lärmkompensation bis hin zu Sprachassistenten oder gar Internet-gestützter Simultanübersetzung von Fremdsprachen – eine Entwicklung mit positiven wie potenziell negativen Seiten.

Hörgeräte sind kein Stigma mehr

Eindeutig positiv: Hörgeräte sind kein Stigma mehr. Prominente Politiker (Bill Clinton) und Künstler (Mario Adorf) stehen dazu oder machen sogar Werbung für Hörgeräte, obwohl sie gar nicht schwerhörig sind (Thomas Gottschalk). „In-Ear-Ohrhörer (Buds) sind sozial akzeptiert und hip – doch niemand ahnt, dass sie „Hörgeräte“ sind“, erklärt Michel und fragt sich, ob es bald Hörgeräte im Elektronikfachmarkt zu kaufen geben wird.

In den USA muss seit 2017 niemand mehr eine ohrenärztliche Verordnung vorweisen, um freiverkäufliche Hörgeräte im Laden oder per Versand kaufen zu können. Es wird mit deutlichen Preisreduktionen gerechnet, so dass sich viele US-Bürger überhaupt ein Hörgerät werden leisten können.

Die US-Zulassungsbehörde FDA hat das von Donald Trump unterzeichnete Gesetz allerdings noch nicht ratifiziert, entsprechende Regularien stehen, angeblich Pandemie-bedingt, noch aus. Dies haben Experten Ende 2020 im „New England Journal of Medicine“ angesichts der Unterversorgung mit Hörgeräten in den USA heftig kritisiert (NEJM 2020; 383; 21: 1997-2000).

In-Ear-Ohrhörer (Buds) sind sozial akzeptiert und hip – doch niemand ahnt, dass sie ‚Hörgeräte‘ sind.

Professor Olaf Michel, Universitair Ziekenhuis, Brüssel

Vorteile moderner In-Ear-Kopfhörer sind, dass mehrere Geräte miteinander kommunizieren: Mikrofone nehmen Geräusche und Sprache auf, senden sie an das Smartphone, dessen Software die Eingangsfrequenzen prüft, filtert, verstärkt und Störgeräusche unterdrückt. Die Anpassung an das individuelle Hörvermögen geschieht Web-basiert. Hörgeräte-Hersteller bieten auf ihren Homepages kostenlose Online-Hörtests an und treten damit in direkte Konkurrenz zur Audiometrie beim Facharzt.

Voraussetzung ist lediglich ein On-Ear-Kopfhörer und eine ruhige Umgebung. Das Verhalten in unterschiedlichen Gesprächs- und Hörsituationen und individuelle Hörprobleme werden teilweise erfragt. Selbst für Kinder werden Online-Hörtests angeboten. Vor diesem Hintergrund fordert Michel, auf einem hohen, fachärztlichen Standard audiologischer Untersuchungen zu bestehen. Es gelte, „DocInternet“ und „Do-it-yourself-Audiometrie“ unterscheidbar von Hördiagnostik auf hohem Niveau anzubieten.

Hörvermögen testen via App

Klar sei aber auch, dass die technischen Entwicklungen und die damit verbundenen Bequemlichkeiten am „Konzept der jetzigen Hörgerätesysteme nagen“. So lässt sich mit Smartphone-Apps das Hörvermögen kontinuierlich selbst bewerten. Zu beachten ist dabei, dass die Tests zum Teil auf spezifische Kopfhörermodelle und Geräte kalibriert sind. Inzwischen werden solche Apps auch in wissenschaftlichen Studien evaluiert.

Michel zitiert zum Beispiel mehrere Studien zur App „uHear“ wonach bei einem Screening auf mäßiges oder schlechtes Hörvermögen von Erwachsenen eine Sensitivität von 98 bis 100 Prozent ermittelt worden sei. Die Spezifität streute zwischen 60 und 83 Prozent. Vor allem der Umgebungsgeräuschpegel hat erheblichen Einfluss auf die Genauigkeit der Selbsttests. Verlässliche Ergebnisse eines Hörscreenings könnten immer nur dann erzielt werden, wenn die Hardware korrekt kalibriert oder zumindest standardisiert sei, betont Michel in seinem Beitrag.

Ein weiterer Schritt sind selbstanpassende Hörgeräte. Bereits 2018 hatte die FDA ein drahtloses Gerät eines bekannten Unterhaltungselektronikherstellers zugelassen, das der Benutzer selbstständig montieren, programmieren und steuern kann. Wegen der ausstehenden FDA-Regulation ist es bislang nicht auf dem Markt. Das zeigt aber, wo die Reise – auch in Europa – hingehen könnte.

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