ALM
Kritik an Ökonomisierung der Medizin
Hängt die Klinikexistenz nur noch von Bilanzen ab, bleiben Patienteninteressen auf der Strecke. Entsprechende Kritik wurde auf einer Veranstaltung der Akkreditierten Labore in der Medizin laut.
Veröffentlicht:Berlin. Eine zunehmende Ökonomisierung und damit „Entwertung“ ärztlichen Handelns hat der Freiburger Medizinethiker Professor Giovanni Maio beklagt. „Moderne Medizin bedient sich der Prinzipien moderner Industrie – als ginge es darum, so viele Patienten wie möglich durch den Medizinbetrieb zu schleusen“, sagte Maio bei einer Veranstaltung des Verbands der Akkreditierten Labore in der Medizin (ALM) am Montag in Berlin. Ärztliches Handeln dürfe aber nicht zu wirtschaftlichen Zwecken missbraucht werden.
Die Warnung dürfte bei Ärzten auf offene Ohren stoßen. Erst kürzlich hatten mehrere Medizinerverbände in einem gemeinsamen Appell gegen eine von ökonomischen Zwängen beherrschte Patientenversorgung Front gemacht und ein Umdenken gefordert.
Öffentlicher Ärzte-Appell
Mehr den Patienten, nicht die Erlöse im Blick halten!
Wenn Praxen und Kliniken wie Unternehmen betrachtet würden, sei das ein „Fehler“, betonte auch Maio. „Medizin ist kein Betrieb, sondern soziale Praxis.“ Die „Sorgelogik“ und nicht die betriebliche Logik ständiger Produktivitätssteigerung müsse das Handeln von Ärzten bestimmen.
Beziehungsarbeit lohnt nicht für Investoren
Hänge die Existenz einer Klinik nur noch von Bilanzen ab, habe man es mit einer „Ziel-Mittel-Umkehrung“ zu tun, so Maio weiter. Der Patient gerate dann zum „Mittel zum Zweck“, und dieser bestehe in höheren Erlösen. Derzeit würden – politisch gewollt oder toleriert – „falsche Anreize“ gesetzt, die all das ausblendeten, was die Arbeit von Ärzten ausmache.
Die „fließbandartige Produktion“ von Gesundheit führe dazu, dass unterschiedliche Patienten gleichgemacht würden, gab der Medizinethiker zu bedenken. Die „Professionalität der Ärzte“ bestehe aber gerade darin, „dass sie das Laborparadigma parat haben und den Einzelfall verlässlich beurteilen können“. Sie müssten stets prüfen, ob Standards gültig seien oder der zu behandelnde Patient „anders“ sei als der Standard es vorsehe.
Diese „Komplexitätsbewältigungs-Kompetenz“ werde im Gesundheitsbetrieb durch „Handreichungs-Kompetenz“ ersetzt, betonte Maio. „Einfach soll es sein.“ Zeit- und personalintensive Beziehungsarbeit lohne sich für Investoren nicht. Um solche Beziehungsarbeit sollte es in der Medizin aber „zuallererst“ gehen – vor allem, wenn chronisch kranke Menschen zu versorgen seien.
„Die, die der Medizin am meisten bedürfen, werden marginalisiert.“ Mit „ziemlich gesunden Menschen“ lasse sich dagegen viel Geld verdienen. „Das ist ganz gefährlich.“ Freiberuflichkeit und damit Unabhängigkeit des Arztberufs gehörten daher „neu in den Blick genommen“, forderte Maio.
Die Frage, wie unabhängig ein Arzt sei, hänge nicht davon ab, ob er in Niederlassung oder Anstellung praktiziere, betonte die Vizepräsidentin der Bundesärztekammer Dr. Ellen Lundershausen. „Es darf alle Facetten der Berufsausübung geben, solange sich der Arzt an die Prinzipien der Freiberuflichkeit hält.“
Arztberuf neu in den Blick nehmen
Sie habe allerdings Zweifel, ob das Hauptinteresse eines MVZ-Betreibers mit Hauptsitz in China dem hiesigen Patientenwohl gelte, so Lundershausen. Die Kritik Maios an der Raum greifenden Ökonomisierung der Medizin habe ihre „Arztseele schon gestreichelt“. Letztlich sei die Entscheidung, sich niederzulassen, auch „eine Typenfrage“, sagte die BÄK-Vizepräsidentin. Nicht jeder sei für selbstständige Arbeit geschaffen. Die ärztliche Niederlassung sei aber auch über Jahre „schlecht geredet“ worden.
Selbstkritisch merkte Lundershausen an: „Wir haben auch vergessen, jungen Menschen Mut zu machen, in die Niederlassung zu gehen.“
Man könne als niedergelassener und als angestellter Arzt „ein guter Arzt“ sein, machte der Sprecher des „Bündnis Junge Ärzte“ und Facharzt für Innere Medizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Dr. Kevin Schulte deutlich. „Wir verstehen schon, was Freiberuflichkeit heißt, wir nennen es nur nicht so, wir fühlen es.“
In der Diskussion werde noch immer verkannt, dass sich Arbeit, auch die von Ärzten, verändert habe. Der Fokus richte sich nicht bloß auf die Karriere, sondern auch auf ein intaktes Familienleben. Politik und Gesellschaft ließen die jungen Ärzte allein mit der Aufgabe, beides unter einen Hut zu bekommen. „Wir stehen am Scheideweg.“
Trotz Anstellung übe er einen „freien Beruf“ aus, sagte Dr. Philipp Demmer, Facharzt für Humangenetik am IMD Labor Berlin. „Ich empfinde den Beruf sogar als freier, da ich mich mehr um Diagnostik kümmern kann und weniger mit Abrechnungsdingen zu tun habe.“ „Ich kann mich auf das Arzt-Sein konzentrieren“, betonte auch Franziska Wiebesiek, Fachärztin für Laboratoriumsmedizin am MVZ Diamedis. In Anstellung könne sie Arbeit und Familie besser vereinen.
Junge Ärzte wollen ein Familienleben
Botschaften, die in der Politik angekommen seien, betonte CSU-Gesundheitspolitiker Dr. Stephan Pilsinger. „Den Arzt, wie man ihn früher kannte, gibt es nicht mehr.“ Es sei nicht der finanzielle Aspekt, der Ärzte zur Anstellung bewege. Junge Ärzte wollten vielmehr ein „ordentliches Familienleben.“ Um die Attraktivität des Arztberufes zu steigern, müsse man Ärzte von nicht-ärztlichen Aufgaben entlasten. „Da müssen wir uns als Politik an die Nase fassen und überlegen, was wir hier noch mehr tun können.“
„Unser Hauptproblem sind die Hamsterräder“, betonte auch FDP-Gesundheitspolitiker Professor Andrew Ullmann. Bei der Frage, was Ärzte am Meisten störe, stehe überbordende Bürokratie an erster Stelle. „Man kann es auch übertreiben.“ Der „Generalverdacht“ gegenüber Ärzten, sie rechneten falsch ab, nerve allmählich.
Für die gesetzlichen Krankenkassen stellte der Politikchef des GKV-Spitzenverbands Michael Weller fest, dass „Qualität und Organisation“ ärztlicher Arbeit entscheidend seien, nicht die Form der Berufsausübung. Entscheidend sei, „wie frei ist der Arzt in seiner Entscheidung“. Hier seien alle gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen zu setzen. „Ich hätte ein Problem, wenn sich marktbeherrschende Strukturen ausbilden.“ Womöglich brauche es eine Art „Firewall“.
„Der liebste Arzt ist der, bei dem sich der Patient gut aufgehoben fühlt“, unterstrich auch der Geschäftsführer des Verbands der privaten Krankenversicherung (PKV) Dr. Florian Reuther. Das sei weniger eine Frage von niedergelassen oder angestellt, mehr eine Frage der Rahmenbedingungen. Freiberuflichkeit werde dann „ruiniert“, wenn der Eindruck entstehe, der Arzt handele als „Agent“, der Medizin nur zuteile.
ALM-Vorsitzender Dr. Michael Müller argumentierte ähnlich. Ärztliches Handeln müsse vom Vorsatz geleitet sein, das medizinisch Notwendige zu tun. Junge Ärzte wollten interdisziplinär arbeiten und mit anderen zusammen, und sie wünschten sich eine gute Work-Life-Balance sowie motivierende Rahmenbedingungen, sagte Müller und verwies auf entsprechende Umfragen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.