Big Data in der Psychiatrie

Selbstlernende Software erkennt Psychosegefahr

PCs denken anstatt nur zu berechnen: Big Data wird vielleicht schon bald die Psychiatrie umkrempeln. Selbstlernende Algorithmen erkennen das Psychoserisiko durch MRT-Aufnahmen, simple Apps warnen Patienten, wenn sie in eine Manie kippen.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Mittlerweile entwickelt Software Algorithmen, indem sie durch Übung lernt.

Mittlerweile entwickelt Software Algorithmen, indem sie durch Übung lernt.

© Andrea Danti / fotolia.com

Der lange Winter in der künstlichen Intelligenz ist offenbar vorbei: Lange Zeit waren die Fortschritte hier so langsam, dass schon viele Experten davon ausgingen, wichtige Domänen menschlicher Kognition seien für Maschinen unerreichbar. Doch mittlerweile macht das maschinelle Lernen von sich reden.

Dabei werden Aufgaben nicht mehr nur durch brachiale Rechengewalt gelöst, die Software entwickelt selbst passende Algorithmen und Strategien, indem sie durch Übung lernt. Im März dieses Jahres gelang es dem Computer "Alpha Go" mit solchen Techniken erstmals, den Weltmeister im asiatischen Brettspiel Go zu schlagen.

Computer lernen statt zu berechnen

Da es bei diesem Spiel mehr Möglichkeiten gibt, die Steine zu platzieren, als Atome im Universum existieren, können Computer – anders als beim Schach – nicht gewinnen, indem sie schlicht versuchen, sämtliche Möglichkeiten durchzurechnen. Ein Maschinensieg wurde daher allenfalls für die kommenden Dekaden vorhergesagt.

Alpha Go arbeitet jedoch in gewisser Weise ähnlich wie das menschliche Gehirn, Informationen werden auf Basis neuronaler Netze in verschiedenen, gestuften Schichten verarbeitet, "tiefere" Schichten analysieren dabei basierend auf dem Input der vorgeschalteten Schichten komplexere Zusammenhänge.

Alpha Go ging auf diese Weise rund 13 Millionen Go-Spiele durch und spielte dann noch ein paar Millionen Mal gegen sich selbst. Anschließend gewann die Maschine vier von fünf Spielen gegen den amtierenden Weltmeister Lee Sedol.

Programm findet selbstständig auffällige Muster

Diese Art von "Deep Learning" wird wohl auch die Medizin umkrempeln. Vor allem bei der Auswertung von Bildgebungsdaten könnten Computerprogramme bald besser sein als Ärzte. Sie sind etwa in der Lage, Muster zu erkennen, die kein Experte sieht. Das lässt sich zur Diagnostik oder zur Prognose des Krankheitsverlaufs nutzen.

Beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) stellte Professor Nikolaos Koutsouleris von der LMU München ein System zur Abschätzung der Prognose bei Patienten mit hohem Psychoserisiko vor.

Das System nutzt strukturelle MRT-Daten und kann anhand von erhöhten und erniedrigten Volumina bestimmter Kortexbereiche relativ gut abschätzen, welche Patienten mit hohem Psychoserisiko tatsächlich in eine Psychose abgleiten.

Auf welche Bereiche das System besonders achten muss, findet es selbst heraus, indem es Datensätze zu Hochrisikopatienten auswertet. Die Münchener Forscher haben es mit Patientendaten der LMU und der Universität Basel gefüttert.

Es konnte dabei lernen, Gehirne späterer Psychosepatienten von solchen zu unterscheiden, die trotz hohen Risikos nicht erkranken. Nach Auffassung von Koutsouleris haben etwa 5 bis 6 Prozent in der Bevölkerung ein hohes Psychoserisiko oder ein Psychoseprodrom.

"In der Regel sind das junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren, die eine veränderte Wahrnehmung bemerken. Sie können sich weniger gut konzentrieren und sprechen, Worte finden oder Sprache richtig verstehen. Einige haben das Gefühl, andere Menschen schauen sie komisch an und führen etwas im Schilde."

Von solchen Personen entwickelten jedoch nur rund 20 bis 30 Prozent in den nächsten Monaten eine Psychose, erläuterte Koutsouleris. Für Psychiater wäre es natürlich wichtig zu wissen, wer nun eine ungünstige Prognose hat und eventuell von einer prophylaktischen Behandlung profitieren könnte.

8 von 10 richtige Vorhersagen

Nachdem das Programm der Münchener Forscher mithilfe von MRT-Daten trainiert worden war, konnte es die Erkrankungswahrscheinlichkeit in einer Gruppe von Hochrisikopatienten mit 81 Prozent richtig vorhersagen.

Das Programm ermöglichte zudem eine Einteilung der Hochrisikopatienten in drei Kategorien: Solche mit einem ultrahohen Risiko konvertieren danach zu 88 Prozent in eine Psychose, mit mittlerem Risiko zu 38 Prozent und mit geringem zu 8 Prozent.

Ärzte können dies natürlich für Therapieentscheidungen nutzen. Etwa eine medikamentöse Prophylaxe bei Patienten mit ultrahohem Risiko, psychosoziale Interventionen bei mittlerer und engmaschige Kontrollen bei niedriger Konversionsgefahr, erläuterte der Psychiater.

Noch wichtiger für Patienten sei jedoch das Funktionsniveau – dies ist häufig auch dann beeinträchtigt, wenn keine manifeste Psychose auftritt. Anhand einer Zehn-Punkte-Skala zum gegenwärtigen sozialen Funktionsniveau und mithilfe der strukturellen MRT-Daten lässt sich bei 78 Prozent richtig vorhersagen, wer neun Monate später gut oder schlecht in der Lage ist, seine sozialen Funktionen wahrzunehmen.

Koutsouleris stellt sich vor, dass künftig Psychiater bei Patienten mit klinischen Zeichen für ein hohes Psychoserisiko dieses mithilfe der strukturellen Bildgebung präziser bestimmen.

Er sieht auch für Patienten einen großen Vorteil darin, die Prognose anhand objektivierbarer Daten zu präzisieren. "Das verschafft den Patienten und ihren Familien Klarheit und führt eher zu einer Entlastung als zu einer Stigmatisierung." Derzeit wird das System in mehreren EU-Projekten getestet und validiert.

Zu viele Mails und SMS – dann warnt die App

Big Data kann künftig aber auch auf andere Weise Patienten vor einem psychotischen Schub, einer Manie oder einem Rückfall in die Alkohol- und Spielsucht warnen. Dazu müssen nicht einmal neue Geräte erfunden werden – das allgegenwärtige Mobiltelefon reicht

 Ausgestattet mit Apps, die auf bestimmte Verhaltensweisen reagieren, könnte es einen neuen Krankheitsschub rechtzeitig erkennen.

Schreibt ein manisch-depressiver Patient plötzlich die halbe Nacht Nachrichten auf dem Gerät oder telefoniert er den halben Tag, ließe sich dies als Beginn einer Manie interpretieren, erläuterte Professor Andreas Mayer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Das GPS könnte wiederum Süchtige warnen, wenn sie in die Nähe von Kneipen oder Spielhallen gelangen. Auch für das psychotherapeutische Gespräch seien solche Bewegungs- und Verhaltensdaten interessant. Voraussetzung wäre hier jedoch, dass die Patienten freiwillig solche Angaben speichern und an die Therapeuten weiterreichen.

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