Götter in weiß
Unter dem Arztkittel steckt auch nur ein Mensch
Als Bloggerin Solveig Mosthaf das erste Mal einen Arztkittel anzog, fühlte sie sich unsicher. Und sie irritierte die plötzliche Aufmerksamkeit von Menschen, für die sie vorher unsichtbar war.
Veröffentlicht:Ärzte sind Helden. Allwissend. Halbgötter in Weiß. Dieses Bild vermitteln Bücher, Filme, Serien, dieses Bild haben Patienten. Auch manche Ärzte sehen sich selbst so. Statussymbol ist der weiße, hell leuchtende Arztkittel. Zu Beginn des Medizinstudiums fragt man sich, ob man selbst wohl auch einmal ein solcher Held wird.
Am Anfang steht erst einmal der Laborkittel. Ob Chemiepraktikum, Biochemie oder Präpkurs – der Kittel hat lang zu sein, möglichst viel soll bedeckt werden. Es ist egal, ob der Kittel gebügelt ist oder zerknittert. Er fängt die Flecken der Chemikalien ab, schützt vor Formalinspritzern.
Solveig Mosthaf
Solveig Mosthaf ist 25 Jahre alt und studiert im zehnten Semester in Freiburg. Zurzeit ist sie an Kinderheilkunde, Frauenheilkunde und Allgemeinmedizin interessiert.
Sie fühlt sich in der sprechenden Medizin wohler als zum Beispiel in der reinen Chirurgie.
Außerdem engagiert sie sich in ihrer Fachschaft und war im Vorstand der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) aktiv.
Anfassen will man dieses abstrakte, unförmige und dreckige Ding hinterher eigentlich nicht mehr, tragen schon gar nicht.
In weiß wird man plötzlich gesehen
Für die ersten klinischen Praktika wird es dann ernst: In der Klinik wird man in weiß gekleidet plötzlich gesehen, von den Patienten, von zukünftigen Kollegen, von Pflegerinnen und Pflegern.
Da kann man nicht mit einem fleckigen alten Laborkittel auftauchen. Ein ansehnlicherer Kittel muss her, mit gutem Schnitt, der regelmäßig gewaschen und gebügelt wird.
Mit dem Anziehen des Arztkittels schlüpft man gleichzeitig in eine Rolle. Das medizinische Wissen, die (zukünftige) Expertise wird durch das leuchtende Weiß symbolisiert. Fremde stellen einem plötzlich alle möglichen Fragen – sei es die Frage nach der besten Therapie, nach dem Zeitpunkt der Entlassung oder auch nur nach dem Weg zum Klinik-Café.
Arztrolle fühlt sich groß an
Zu Beginn der klinischen Ausbildung ist das ein sehr seltsames Gefühl, denn so viel mehr als das Gegenüber weiß man eigentlich auch nicht. Man ist schließlich hier, um zu lernen. Die Arztrolle fühlt sich groß an und unpassend, man füllt sie längst nicht aus.
Mit der Zeit ändert sich das. Mit der Zeit lernt man mehr und mehr, sammelt Erfahrung, kann medizinische Fragen immer besser beantworten (zumindest in der Theorie). Je mehr Praktika und Famulaturen hinter einem liegen, desto mehr gewöhnt man sich auch an das Weiß.
Man lernt es zu schätzen, gesehen zu werden. Man versteht: Ein Kittel steht für Wissen, lässt einen schlau aussehen. Er kann auch die Attraktivität desjenigen, der darin steckt, steigern. Kein Wunder, dass einige der Kittelträger nicht mehr nur gehen, sondern stolzieren.
Gar nicht so schlau wie gedacht
Je mehr Semester hinter einem liegen, desto näher kommt man dem Arztsein. Unter dem Weiß wächst das Wissen, ebenso die Selbstsicherheit. Irgendwann merkt man: Viele Kittelträger sind gar nicht viel älter oder erfahrener als man selbst.
Es gibt unter ihnen einige, die gar nicht so schlau sind, wie sie anfangs schienen. Und auch attraktiver als andere sind sie nicht. Sobald das Weiß einmal abgelegt ist und nicht mehr blendet, sehen sie ziemlich normal aus.
So kommt man immer öfter zu dem Fazit, dass unter dem Kittel eigentlich gar keine Halbgötter in Weiß stecken, sondern Menschen wie du und ich. Man versteht, dass auch diejenigen, zu denen man aufschaut, ihren Weg klein und in viel zu großen Laborkitteln begonnen haben.
Man selbst wird im Laufe der Jahre (und Jahrzehnte) vom Laien zum Experten, obwohl das anfangs große, später kleinere Gefühl der Unsicherheit womöglich nie ganz verschwindet. Der Kittel wird im Laufe der Jahre vom abstrakten Etwas, das man überziehen muss, zu einem Teil des Selbst.
Ob Statussymbol oder nur Berufskleidung – man identifiziert sich mit dem Weiß, mit der Arztrolle, und am Ende ist beides weder heldenhaft noch göttlich, sondern – zum Glück – ganz alltäglich.