Flüchtlinge und Co.

Wenn der Arzt zum Sozialarbeiter wird

Die Versorgung von Flüchtlingen bringt Ärzte vermehrt in Zwiespalt mit Behörden. Aber auch immer mehr EU-Bürgern fehlt der Versicherungsschutz. Ärzte müssen hier oft die Rechte ihrer Patienten einfordern.

Kerstin MitternachtVon Kerstin Mitternacht Veröffentlicht:

MAINZ. Immer mehr Menschen können sich in Deutschland eine gesundheitliche Versorgung nicht leisten.

Nicht nur wohnungslose Menschen, auch EU-Bürger ohne Versicherungsschutz, Asylbewerber, papierlose Menschen, Haftentlassene, die noch nicht versichert sind, oder auch Privatversicherte, die ihre Versicherung nicht mehr zahlen können, sind zunehmend auf medizinische Hilfe abseits unseres Gesundheitssystems angewiesen.

Kommen dann noch traumatische Erlebnisse hinzu, wie sie bei Flüchtlingen häufig sind, ist das Praxisteam gleich an mehreren Stellen gefordert.

Viel persönliches Engagement nötig

Einer, der weiß, was es heißt, in unserem Land Patienten außerhalb des Versicherungssystems gut versorgen zu wollen, ist Professor Gerhard Trabert. Der Arzt und Sozialpädagoge hat bereits vor etwa 20 Jahren angefangen, sich um wohnungslose Menschen zu kümmern.

Über das so genannte "Mainzer Modell" werden wohnungslose Patienten via Arztmobil versorgt. "Ich kann direkt zu den Menschen fahren und muss nicht warten, bis sie in die Praxis kommen  - was für zahlreiche Betroffene mit vielen Hindernissen verbunden ist", sagt Trabert.

1997 hat er den Verein "Armut und Gesundheit" gegründet, der sich gezielt für arme und sozial benachteiligte Menschen einsetzt und dessen Vorsitzender er ist.

Da jedoch mit der Zeit immer mehr Menschen, auch nicht wohnungslose, mit Gesundheitsproblemen das "Mainzer Modell" in Anspruch genommen haben, hat vor zwei Jahren die "Ambulanz ohne Grenzen" in Mainz eröffnet.

Eine Art Poliklinik für sozial benachteiligte Patienten, wie EU-Bürger ohne Krankenversicherung, Asylbewerber, Haftentlassene oder papierlose Menschen.

20 Ärzte arbeiten dort ehrenamtlich: Allgemeinmediziner, Internisten, Zahnärzte, Chirurgen, Kinderärzte, Psychiater und Gynäkologen. "Wir haben hier pensionierte Ärzte, niedergelassene und Klinikärzte", berichtet Trabert.

Außerdem gibt es eine telemedizinische Kooperation mit einem Dermatologen. Und es sind Sozialarbeiter vor Ort - denn das Ziel sei, die Menschen in das System wieder zu integrieren.

Unterstützt wird diese "Poliklinik" unter anderem von "Apotheker ohne Grenzen". Trabert: "Von den Apothekern bekommen wir Medikamente zur Verfügung gestellt."

Anamnesebögen in 15 Sprachen

Da Menschen aus unterschiedlichen Ländern in die Ambulanz kommen, gibt es Anamnesebögen in 15 Sprachen, die auch von der Homepage heruntergeladen werden können, und die Ambulanz arbeitet mit Dolmetschern zusammen.

"Ein Problem ist, dass es zu wenig spezifische Aufklärung gibt, die Ärzte und Apotheker zum Beispiel über die Gesundheitsversorgungsrechte von Asylbewerbern oder Flüchtlingen informiert", sagt Trabert.

"Auch hier versuchen wir, Aufklärungsarbeit zu leisten. So ist es zum Beispiel nicht rechtskonform, dass Apotheken Gebühren von Asylbewerbern verlangen."

Bei EU-Bürgern, wie Rumänen und Bulgaren, beobachtet der Arzt, dass diese in Deutschland oft als Schwarzarbeiter ausgebeutet werden. Und dass sie die Komplexität unseres Gesundheitssystems nicht kennen.

Zudem gebe es auch keine adäquate Versorgungsstruktur, die diese Menschen mit gesundheitlichen Problemen auffängt.

"Wir hatten einen rumänischen Patienten mit der Diagnose Krebs. Es hat lange gedauert, bis die Kostenübernahme, die von unserem sozialen Netz nicht geleistet wird, für die Behandlung geklärt war. Zu lange, da der Krebs nicht mehr operiert werden konnte.

Der Patient hatte daraufhin starke Schmerzen, aber auch für eine Schmerztherapie musste die Finanzierung sichergestellt werden. Der zuvor gefundene Kostenträger, die Ethikkommission einer Uni-Klinik, übernimmt aber nur die Kosten, wenn es eine Aussicht auf Heilung gibt, was hier leider nicht mehr der Fall war", berichtet Trabert. "Und dies ist kein Einzelfall."

Übernahme der Zahnbehandlung nur bei Schmerzen

Ähnlich sehe es bei syrischen Flüchtlingen aus, erklärt er. In Deutschland lebende Syrer, die ihre Verwandten über die Kontingentregelung nach Deutschland holen möchten, müssen ungefähr 3500 Euro Einkommen nachweisen, denn sie müssen aufgrund der Verpflichtungserklärungsregelung in acht Bundesländern für alle Kosten aufkommen, auch für etwaige Krankenbehandlungskosten.

Das könne eine Familie schnell in den Ruin treiben. "Wir haben einen syrischen Flüchtling, der ein Hodenkarzinom hat, jedoch wollte niemand die Kosten für die Behandlung übernehmen. Wir sind dann an die Öffentlichkeit gegangen und haben über Spenden helfen können. Dies ist ein Skandal!", so Trabert.

Auch einem sechsjährigen Kind, das den Status eines Asylbewerbers besitzt und eine Zahnbehandlung benötigte, sagte das Sozialamt, dass es nur bei Schmerzen die Zahnarztkosten übernimmt.

"Nach einigen Gesprächen haben sie die notwendige Behandlung dann aber doch bezahlt."

Es könne einfach nicht sein, dass Asylbewerber zu Nicht-Medizinern gehen müssen, um einen Krankenschein zu bekommen, so der Arzt.

Der Verein ist daher auch politisch aktiv und setzt sich für die Krankenkassenkarte für Asylbewerber ein. Denn die Versorgung von Flüchtlingen sei bei uns nicht menschenrechtskonform, so Trabert.

Dies liege auch daran, dass Ärzten oft zu wenige Informationen zu diesem Thema bekannt seien.

"Es gibt den Notfallparagrafen, der besagt, dass papierlose Flüchtlinge behandelt werden dürfen und die Kommunen die Kosten übernehmen und Patientendaten nicht weitergegeben werden müssen. Diese Form des quasi anonymen Krankenscheins hat der Deutsche Ärztetag in den vergangenen Jahren mehrmals eingefordert."

Argumentation des Arztes entscheidet

Ärzte, zu denen Flüchtlinge oder papierlose Menschen in die Praxis kommen, sollten versuchen, offensiv mit der Situation umzugehen und die Rechte für die Betroffenen einfordern, so Trabert, der auch Leiter der Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit der Nationalen Armutskonferenz ist.

Etwa, wenn es Verständigungsschwierigkeiten gibt, einen Dolmetscher mit einbeziehen, denn die Sozialbehörden müssen Dolmetscher bezahlen, wenn Ärzte dies fordern.

"Auch dürfen Ärzte zum Beispiel chronische Erkrankungen behandeln, die bei Asylbewerbern nicht im Leistungskatalog enthalten sind, wenn eine akute Gesundheitsverschlechterung und Schmerzen unmittelbar drohen. Dies liegt dann auch oft an der Argumentation des Arztes", sagt Trabert.

Zudem sollte immer berücksichtigt werden, was die Menschen bereits durchgemacht haben.

"Viele Flüchtlinge waren oft über lange Zeit unvorstellbaren Stresssituationen ausgesetzt, und leiden deshalb auch häufig unter Depressionen, Angststörungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen", weiß Trabert.

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