Volkskrankheit
Erst steigt die Zahl der Adipösen, dann die Zahl der Diabetiker
Wie lässt sich Diabetes zurückdrängen? Indem Übergewicht und Adipositas bekämpft werden. Leicht gesagt, schwer getan, wie auf dem "Länger besser leben"-Kongress der Universität Bremen und der Krankenkasse BKK 24 in Hannover deutlich wurde.
Veröffentlicht:HANNOVER. Eigentlich könnte alles ganz einfach sein: Fünf mal Gemüse am Tag, ein ordentlicher Spaziergang mit dem Hund, nicht rauchen und nur ab und zu ein Glas Wein. Wer diese vier Regeln einhält, könnte bis zu 14 gesunde Lebensjahre mehr erleben als rauchende "Couch-Potatoes", die auf viel Chips und Bier nicht verzichten wollen. Das hat jedenfalls die EPIC-Studie ("European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition") Ende der 90er Jahre ergeben, eine Studie der Abteilung für Public Health der Universität Cambridge in England. Diese Ergebnisse stimmen mit anderen Studien überein. "Sie empfehlen ähnliche wesentliche Reduktionen eines Risikos beim Lebensstil im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten wie koronarer Herzkrankheit, Diabetes und Krebs zu sehen (Rimm EB et al.; 2014, JAMA 292; 1490-1492), heißt es in der Auswertung der EPIC-Studie.
"Der bei Weitem stärkste einzelne Risikofaktor für Diabetes ist Übergewicht, beziehungsweise Adipositas", sagte denn auch Professor Hans Hauner, Ordinarius für Ernährungsmedizin an der TU München, in seinem Referat auf der Hannoveraner Tagung. Der Typ 2 Diabetes sei eine typische moderne Zivilisationserkrankung, die eng mit der Lebensweise assoziiert sei, so Hauner: "Die sich rasch ändernden Lebensbedingungen mit einem Überfluss an überall präsenter ungesunder energiereicher Ernährung und der chronische Bewegungsmangel fördern die Entwicklung dieser Krankheit enorm."
6,5 Millionen Diabetiker
Man könne dies in Aufschwungländern beobachten: "Zuerst steigt die Zahl der Adipösen, dann die Zahl der Diabetiker." In Deutschland leben nach den jüngsten Schätzungen und Analysen rund 6,5 Millionen Diabetiker, Tendenz steigend. In Deutschland trügen etwa ein Drittel der Menschen Diabetes-Suszeptibilitätsgene und habe deshalb ein hohes Risiko, bei ungünstiger Lebensweise im Laufe des Lebens diese Krankheit zu entwickeln, hieß es.
Nach Hauners Ansicht müsse beim Essverhalten angesetzt werden, um Diabetes früh zu bekämpfen oder gar nicht erst ausbrechen zu lassen. "Die Ernährung ist der Nummer-1-Faktor für die Krankheitslast", so Hauner. Allerdings müssten Konsumenten heute sehr stabil sein, um den Verlockungen des "heute sehr energiedichten Essens" zu widerstehen und statt seiner zu Apfel und Karotte zu greifen. Hauner sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer "toxischen Umwelt". Da es zwischen Pommes frites und den guten Absichten keine Waffengleichheit gebe und da die Selbstverpflichtungen der Industrie zu nichts führten, müsse man "über die Ökonomie gehen", wie Hauner sagte. "Wenn man über den Preis geht, zeigen sich die größten Erfolge. Wir brauchen eine Steuer für gesüßte Getränke, wie sie schon in 20 Ländern weltweit üblich ist, etwa in Chile oder England."
Die Regulation des Zuckerverbrauchs sei eine "wichtige politische Aufgabe", ergänzte der Moderator der Veranstaltung, Professor Gerd Glaeske von der Universität Bremen. Und nicht nur die große Politik sei gefordert, sondern auch die Kommunen, um etwa den Kiosk mit Süßigkeiten direkt neben dem Schulhof zu unterbinden. "Um das Ernährungsverhalten zu ändern, braucht man auch Verhältnisse, wo das möglich ist", sagte Glaeske. Das "toxical environment" müsse eingeschränkt werden.
Doch die Realität ist offenbar weit davon entfernt, wie die Referenten auf dem "Länger besser leben"-Kongress darlegten. Die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen (WHO) hat sich zwar zum Ziel gesetzt, der Auftretenshäufigkeit von Übergewicht und Diabetes entgegenzutreten und bis 2020 den Anstieg der beiden Volkskrankheiten zu stoppen. Dies gehöre weltweit zu den neun wichtigsten Gesundheitszielen der Organisation, hieß es. Aber das Gegenteil geschehe, hieß es.
Wo steht Deutschland?
Zwar habe sich hierzulande die Zahl der übergewichtigen und der adipösen Kinder weitgehend stabilisiert, aber die Verteilung auf die sozialen Schichten macht Sorgen, berichtete Professor Bärbel-Maria Kurth. Leiterin der Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring am Robert Koch-Institut (RKI). So habe sich in Deutschland der Anteil übergewichtiger Kinder bis 2006 innerhalb von rund 20 Jahren von 10 auf 15 Prozent erhöht, die Menge adipöser Kinder hat sich von drei auf sechs Prozent erhöht. Das ergab das Gesundheitsmonitoring des RKI.
Diese und andere besorgniserregenden Ergebnisse waren in Deutschland die Grundlage für die Formulierung des nationalen Gesundheitszieles "Gesund aufwachsen". Darin wurde gefordert, den Anstieg der Adipositas- und Übergewichtsprävalenzen zu stoppen. Das Programm zeigte Wirkung. Nach einer Folge-Auswertung aus den Jahren 2013 bis 2017 ("KiGGS"-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen) hat sich zwar der Anteil übergewichtiger beziehungsweise adipöser Kinder nicht erhöht. In den bildungsfernen Schichten aber waren 15 Prozent der Kinder adipös. "Da gehen alle roten Warnlampen an", sagte Kurth.
Hohe Public-Health-Relevanz
Unter den Erwachsenen hat sich im Beobachtungszeitraum der Anteil der übergewichtigen Männer und Frauen stabilisiert, aber innerhalb dieser Gruppen gibt es mehr adipöse Menschen, so die "DEGS"-Studie zur Gesundheit von Erwachsenen. Unter den besser gebildeten Frauen zum Beispiel ist der Anteil adipöser Frauen von 1990 auf 2011 von fast 15 auf rund 11 Prozent gefallen. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl bildungsfernen adipöser Frauen von rund 28 Prozent auf fast 35 Prozent. "Alarmierend" nannte Kurth diese Zahlen. Denn mit der Zahl der Übergewichtigen und Adipösen steigt auch die Zahl der Diabetes-Patienten.
Nicht nur die WHO, sondern auch die Bundesregierung hat erkannt, dass Diabetes Typ 2 zu den Volkskrankheiten von derart hoher Public-Health-Relevanz gehört, dass er Gegenstand des nationalen Gesundheitszieles "Diabetes Mellitus Typ 2: Erkrankungsrisiko senken, Erkrankte früh erkennen und behandeln" geworden ist. Das Projekt läuft von 2015 bis 2019 und soll unter anderem einen "Prototypen für den Nationalen Diabetes-Bericht" entwerfen helfen.
Die BKK 24 hat nach eigenen Angaben ein praxistaugliches Konzept zum "länger besser leben" entwickelt. Im Mittelpunkt stehen die vier der EPIC-Studie entnommenen Regeln zu Ernährung, Bewegung, Nikotin- und Alkoholkonsum.