HTLV-1
Das vergessene Virus
Kaum jemand kennt das HTLV-1-Virus, dabei sind Millionen Menschen infiziert. Vier Prozent davon erkranken in Folge an einer aggressiven Leukämie-Form. Forscher aus aller Welt fordern nun gemeinsam: "Es ist Zeit, das HTLV-1-Virus auszurotten!"
Veröffentlicht:Das Retrovirus HTLV-1 (Humanes T-lymphotropes Virus 1) ist eines der Onkoviren mit der höchsten kanzerogenen Wirkung überhaupt. Weltweit sind geschätzt 20 Millionen Menschen infiziert.
Zwar verläuft die Infektion meist symptomlos, vier bis fünf Prozent der Betroffenen allerdings erkranken in Folge an der hoch-aggressiven Adulten T-Zell-Leukämie (ATL), bei der das Überleben im Durchschnitt acht bis zehn Monate beträgt.
Zudem kann das Virus schwere Erkrankungen wie Myelopathie, Polymyositis, Uveitis oder chronische Lungenerkrankungen hervorrufen.
Diese Fakten stammen aus einem offenen Brief an die WHO, den 60 Wissenschaftler aus aller Welt unterschrieben haben, darunter auch der Entdecker ebenjenes HTLV-1-Virus, Professor Robert Gallo.
Nachweis vor fast 40 Jahren
Nachgewiesen wurde HTLV-1 – das erste Retrovirus, das beim Menschen entdeckt wurde –, schon vor fast 40 Jahren. Erforscht wurde es aber bisher nur wenig – was kaum zu glauben ist angesichts Millionen Infizierter. "Es ist Zeit, das Virus HTLV-1 auszurotten!" forderten daher auch die 60 Wissenschaftler kürzlich.
Doch wie konnte das Virus überhaupt so in Vergessenheit geraten? HTLV-1 wurde kurz vor der Aids-Epidemie der 1980er-Jahre entdeckt. "Es ist bekannt, dass die Entdeckung von HTLV-1 die Wissenschaftler erst auf die Idee gebracht hat, Aids könne durch ein Retrovirus ausgelöst werden", schreiben die Forscher in ihrem Brief. Die Entdeckung von HTLV-1 habe großen Anteil an der Identifizierung von HIV-1 als Ursache von Aids.
Dennoch schien die Aids-Epidemie der 1980er als größeres Problem: "Im Gegensatz zu HIV-Patienten erhielten Menschen, die sich mit HTLV-1 infiziert hatten, nur wenig Aufmerksamkeit", bedauern die Forscher. Internationale Richtlinien zur Therapie, Gelder für die Medikamentenentwicklung oder für klinische Studien habe es kaum gegeben.
Aufgerüttelt hat die Forscher eine im Jahr 2016 publizierte Studie, nach der in Zentralaustralien in einigen Gemeinschaften der Ureinwohner fast jeder zweite Erwachsene HTLV-1 in sich trägt (BMC Public Health 2016; 16:787). Zudem berichten die Experten, im zentralafrikanischen Gabon seien fünf bis zehn Prozent der Erwachsenen seropositiv, in Nigeria 850.000 bis 1,7 Millionen Menschen.
Viele Übertragungen durchs Stillen
HTLV-1 sei aber nicht nur ein Problem von Entwicklungsländern, berichten die Forscher in ihrem Brief. So lebten im Vereinigten Königreich 20.000 bis 30.000 HTLV-1-Infizierte, in Metropolregionen Frankreichs seien 10.000 bis 25.000 Menschen HTLV-1-positiv. Im Süden Japans trügen sogar 30 bis 40 Prozent der Erwachsenen das Virus in sich – und bis zu 5,8 Prozent der Schwangeren.
Deren Risiko, das Virus durch Stillen auf ihr Kind zu übertragen, ist nach Angaben der Wissenschaftler recht hoch: 20-24 Prozent aller Infektionen finden auf diesem Wege statt. Wie bei HIV wird das HTLV-1-Virus aber mit fast 80 Prozent hauptsächlich durch ungeschützten Sex übertragen, selten auch durch Bluttransfusionen, Organspenden oder durch verunreinigte Spritzen bei Drogenkonsumenten.
Gemeinsam mit der WHO wollen die Forscher nun ein Fact Sheet zu HTLV-1 entwickeln, das deutlich macht, dass HTLV-1 als Onkovirus zu schweren Erkrankungen führen kann. Eine spezifische Therapie der HTLV-1-Infektion ist nicht bekannt, oft werden Reverse-Transkriptase-Inhibitoren eingesetzt. Protease-Inhibitoren, die bei einer HIV-Infektion verabreicht werden, zeigten keine Wirkung.
Eine weitere Forderung der Forscher: Viruspositive Menschen sollten informiert werden, dass sie lebenslang klinisch und labordiagnostisch überwacht werden müssen. Zudem müssten Infizierte wissen, dass das Virus sexuell übertragbar ist und dass auch ihre Partner auf eine Infektion getestet werden sollten. HTLV-1-positive Mütter sollten zudem ihre Kinder nicht stillen und auf künstliche Babymilch umsteigen.
Screening scheint zu helfen
"Der Zugang zu einem aktuellen und Evidenz-basierten Fact-Sheet erleichtert es Ärzten und insgesamt allen in der Patientenversorgung Tätigen, eine HTLV-1-Infektion zu diagnostizieren und zu behandeln. Wer aufgeklärt ist, kann sich zudem besser schützen und selbst nach einem Test auf Seropositivität fragen", so die Unterschreiber des Briefes.
Welch großen Erfolge etwa ein Screeningprogramm bei Schwangeren haben kann, zeige ein ANC (Antenatal Care)-Programm aus Japan: Seit Einführung eines landesweiten Screenings auf HTLV-1 habe sich die Rate der HTLV-1-Übertragungen von viruspositiven Müttern auf das Neugeborene von 20 auf 2,5 Prozent reduziert.