Benigne MS

MS bleibt bei vielen auch ohne Therapie stabil

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Einem Teil der Patienten mit benigner MS bleibt das Schicksal erspart, aufgrund zunehmender funktionieller Einschränkungen einen Rollstuhl zu brauchen.

Einem Teil der Patienten mit benigner MS bleibt das Schicksal erspart, aufgrund zunehmender funktionieller Einschränkungen einen Rollstuhl zu brauchen.

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 Ein Teil der MS-Kranken entwickelt auch ohne Therapie keine schweren Beeinträchtigungen. Darauf deuten zwei Langzeituntersuchungen. Es gibt aber einen Haken.

PARIS. Die "benigne" MS ist für viele Neurologen ein Reizthema: Früher oder später schreitet die Krankheit bei praktisch allen Betroffenen voran. Und wenn sich nicht gerade der EDSS-Wert deutlich erhöht, so lassen sich doch häufig auch bei langsamem Verlauf kognitive Beeinträchtigungen feststellen, so lautet deren Credo.

Auf der anderen Seite gibt es Langzeituntersuchungen wie die schwedische Göteborg-Kohorte, in der immerhin noch ein Zehntel der MS-Kranken nach 50 Jahren nur minimale neurologische und neuropsychiatrische Probleme aufwies, hieß es auf dem Welt-MS-Kongress in Paris. Zwei neue Analysen scheinen dies zu bestätigen: Danach kann doch ein gewisser Teil der MS-Kranken über Dekaden hinweg schwere funktionelle Defizite vermeiden – zum Teil auch auch ohne Therapie.

"Die benigne MS existiert tatsächlich"

"Eine sehr stabile benigne MS existiert tatsächlich", folgert Dr. Karen Chung vom UCL Institute of Neurology in London. Die MS-Expertin präsentierte eine neue Auswertung der Londoner CIS-Kohorte. Teilnehmer waren ursprünglich 132 Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS). Sie wurden zwischen 1984 und 1987 in die Studie aufgenommen. Inzwischen sind 29 von ihnen gestorben, bei 19 gilt MS als Todesursache.

Die Patienten wurden regelmäßigen MRT-Untersuchungen unterzogen, sodass auch nachträglich noch eine MS-Diagnose nach den 2010er-McDonald-Kritieren möglich war. Bei 91 der einstigen CIS-Patienten konnte 30 Jahre später der Zustand durch eine direkte Untersuchung oder Telefonbefragung ermittelt werden. 30 von ihnen hatten nie eine MS bekommen.

Von der ursprünglichen Kohorte entwickelten im Laufe der Zeit 80 Patienten eine MS nach den 2010er-Kriterien. Davon waren lediglich elf zu irgendeinem Zeitpunkt mit krankheitsmodifizierenden Arzneien behandelt worden – solche Mittel gab es erst rund zehn Jahre nach Beginn der Studie.

Dennoch hatten 32 der MS-Kranken – also mehr als ein Drittel – auch nach 30 Jahren einen EDSS-Wert von weniger als 3,5 Punkten. Praktisch alle arbeiteten noch ganz- oder halbtags, sofern sie nicht schon das Rentenalter erreicht hatten. Nur drei dieser stabilen Patienten hatten zu irgendeinem Zeitpunkt krankheitsmodifizierende Arzneien genommen. Kognitionstests unterzogen sich nach 30 Jahren noch 20 der stabilen Patienten. Nur einer zeigte dabei unterdurchschnittliche Leistungen.

Patienten ohne benigne MS waren allerdings zum größten Teil ins progrediente Stadium der Erkrankung übergegangen.

Der Haken mit der Prognostizierbarkeit

"Es ist offenbar nicht ungewöhnlich, dass MS-Patienten über drei Dekaden hinweg in der schubförmigen Phase bleiben und dabei nur geringe physische und kognitive Beeinträchtigungen entwickeln", schließt Chung aus den Daten.

Allerdings lässt sich im Voraus nicht sagen, welche Patienten das sind: Wurden die Charakteristika derer mit später benigner und nichtbeniger MS zum Studienbeginn – also noch im CIS-Stadium – verglichen, so traten keine deutlichen Unterschiede zutage. Eine benigne MS ist auch nach Daten des schwedischen MS-Registers nicht klar vorherzusagen.

Einige, wenn auch kaum aussagekräftige Merkmale gibt es dennoch: So waren Patienten mit benigner MS im schwedischen Register zum Krankheitsbeginn deutlich jünger als solche mit nichtbenigner MS (28 versus 34 Jahre), häufiger weiblich (75 versus 69%) und hatten seltener Schübe. Vor allem standen beim ersten Schub zumeist sensorische Probleme im Vordergrund, sagte Dr. Ali Manouchehrinia vom Karolinska-Institut in Stockholm.

Erfahrungen mit benigner MS aus Schweden

Der Neurologe hat anhand von Angaben zu über 11.000 MS-Kranken geschaut, wie sich Patienten mit benigner und nichtbenigner MS weiterentwickeln. Als benigne MS definierte er sämtliche Patienten, die 15 Jahre nach Krankheitsbeginn eine schubförmige MS mit einem EDSS-Wert von 3 Punkten oder weniger hatten – das war rund jeder Fünfte. Bei solchen Patienten verschlechterte sich der EDSS-Wert mit der Zeit zwar ebenfalls: So hatten nach 25 Jahren nur noch 8% aller MS-Patienten einen EDSS-Wert unter 3 – der Anteil war damit deutlich geringer als in der Londoner CIS-Kohorte.

Doch auch hier zeigte sich, dass die Erkrankung weit langsamer voranschritt als bei Patienten mit nichtbenigner MS. Im Alter von 40 Jahren hatten Betroffene mit einer benignen MS einen um zwei Punkte geringeren EDSS-Wert als die übrigen, mit 70 Jahren betrug der Unterschied schon etwa vier Punkte.

Auffällige Unterschiede dennoch nachweisbar

Bei den kognitiven Defiziten ergab sich ein ähnliches Bild. Patienten mit benigner MS schnitten in Kognitionstests 30 Jahre nach Beginn der Erkrankung nicht spürbar schlechter ab als Gesunde, solche mit nichtbenigner MS zeigten jedoch deutliche Defizite.

Klare Unterschiede traten auch bei der Gesamtsterberate zutage: Diese lag in der Gruppe mit nichtbenigner MS siebenfach über der mit benignem Verlauf. "Ein Teil der MS-Patienten entwickelt tatsächlich einen gutartigen Verlauf mit weniger körperlichen Behinderungen und weniger kognitiven Beeinträchtigungen als die übrigen. Solche Patienten sind deutlich gesünder und leben länger", sagte Manouchehrinia. Der Neurologe warnte aber zugleich: "Eine benigne MS ist stets eine retrospektive Diagnose, sie eignet sich nicht, um den künftigen Verlauf bei einem MS-Patienten vorherzusagen."

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