Pilotprojekt zur Fernbehandlung

DocDirekt – "Wo wir sind, ist vorne"

Die KV Baden-Württemberg ist Pilotregion: Das Fernbehandlungsverbot ist im Rahmen des Projekts DocDirekt ausgesetzt. KV-Vize Dr. Johannes Fechner und TeleClinic-Chefin Katharina Jünger über Perspektiven und Stolpersteine des Vorhabens.

Florian StaeckVon Florian Staeck und Rebekka HöhlRebekka Höhl Veröffentlicht:
Bequem vom Sofa aus: So könnte die Gesprächssituation bei DocDirekt aussehen.

Bequem vom Sofa aus: So könnte die Gesprächssituation bei DocDirekt aussehen.

© TeleClinic

Ärzte Zeitung: Wie geht es Ihnen vor dem Start des Projekts DocDirekt, bei dem Sie wissen, dass die gesamte Fachwelt Ihnen auf die Finger schaut – und auf Ihre Fehler wartet?

Dr. Johannes Fechner: Wir betreten in vielen Punkten Neuland. Das gilt zumal, da wir bei diesem Projekt das SGB V im Rücken haben. Dass wir die Ersten sind, freut uns. Natürlich wissen wir, dass uns die anderen KVen beobachten. Um Jogi Löw zu zitieren: Wo wir sind, ist vorne.

Katharina Jünger: Ich bin ein großer Fan dieses Projekts und sehe hier ein großes Potenzial. Telemedizin im Rahmen der KV macht sehr viel Sinn. Bisher scheitert Telemedizin vielfach an Fragen der Erstattung und der Integration in die Regelversorgung. Das ist hier anders.

Wie kommt dieses Thema bei der ärztlichen Basis an?

Fechner: Vor zehn Jahren hätten wir sicherlich noch mit erheblichem Widerstand rechnen müssen. Aber angesichts des absehbaren Ärztemangels gibt es inzwischen nur noch vereinzelt kritische Stimmen unter den Kollegen.

Warum hat sich die KVBW für die TeleClinic als Kooperationspartner entschieden?

Fechner: Wir brauchen nicht mehr beweisen, dass Telemedizin funktioniert. Das haben wir uns bei MedGate in der Schweiz angeschaut. Allerdings können wir nicht wie MedGate 40 bis 60 angestellte Ärzte in einen Saal setzen, vielmehr beraten bei DocDirekt unsere Vertragsärzte aus ihren Praxen heraus.

Im Zuge der Ausschreibung haben wir erfahren, dass die TeleClinic genauso arbeitet, wie wir uns das vorstellen.

Frau Jünger, welches Know-how bringt die TeleClinic in das Projekt ein?

Jünger: Die TeleClinic wurde vor rund drei Jahren mit dem Ziel gegründet, durch Digitalisierung einen Mehrwert im deutschen Gesundheitswesen zu schaffen. Bei uns kommen ärztliches, juristisches und informationstechnisches Know-how zusammen. Wir haben Zug um Zug eine dezentrale Infrastruktur aufgebaut, über die Ärzte flexibel ihre Leistungen über digitale Kanäle anbieten können.

Wir sind als Unternehmen in zwei Telemedizin-Projekte involviert. Da ist das der KVBW für die GKV-Patienten, wo wir die Softwareplattform und die Technik bereitstellen. Und dann haben wir ein eigenes Projekt für Privatpatienten. Da können wir über einen Pool mit bundesweit 200 Ärzten alle Fachrichtungen abdecken.

Wir widmen rund 40 Prozent unserer Arbeitszeit Fragen des Datenschutzes. Es ist anspruchsvoll, angesichts des hohen Schutzstandards insbesondere bei einer KV nutzerfreundliche Prozesse zu etablieren. Die TeleClinic gehört zu den Ersten, die eine Telemedizin-Haftpflicht vorweisen kann. Wenn also ein bei uns beschäftigter Arzt im Rahmen unseres eigenen Projekts einen Fehler macht, dann haften wir auch.

Welche Ausstattung benötigt ein Vertragsarzt, um an dem Projekt teilzunehmen?

Jünger: Der Vertragsarzt braucht nichts außer einem Computer mit Kamera, Ton und guter Internetanbindung. Wenn die Bandbreite für die Bildübertragung nicht reicht, schaltet die Technik automatisch auf Telefonie um.

Die klassische Triage hinsichtlich der Dringlichkeit des Anliegens findet ja bei der KV statt. Dann wird ein Ticket an das Ärztenetzwerk gesendet. Der erste Arzt, der freie Kapazitäten hat, kann dann die Beratung des Patienten vornehmen.

Welche spezifischen Auflagen müssen Sie bei diesem Projekt erfüllen?

Fechner: Von der Kammer haben wir die Auflage erhalten, das Modell wissenschaftlich evaluieren zu lassen. Die Vorgaben zum Datenschutz ergeben sich aus dem einschlägigen Berufsrecht. Allerdings sind wir intensiv mit dem Landesdatenschutzbeauftragten im Gespräch. Denn eine KV darf eigentlich keine Anamnesedaten speichern.

Doch die KV-Mitarbeiterin im Callcenter erhebt diese Daten und legt sie auf einer Webplattform der TeleClinic ab. Der Arzt, der die Beratung übernimmt, greift auch auf diese Daten zu. Das ist das Neuland, das wir betreten.

Was sagen Sie den Skeptikern dieser Lösung?

Jünger: Mein Hauptpunkt ist: Wir wollen Ärzten helfen, in Zeiten der Digitalisierung neue Chancen der Kommunikation mit Patienten zu realisieren. Mit Blick auf unsere Technik verweise ich auf die hohe Verschlüsselung der Daten und die Speicherung ausschließlich auf Servern in Deutschland.

Wer wird bei DocDirekt anrufen?

Jünger: Das Projekt mit den Privatpatienten hat bereits begonnen. Da haben wir die Erfahrung gemacht, dass unsere Hauptnutzer – mit weitem Abstand – Familien sind: Sie haben häufig Gesundheitsprobleme und landen bisher viel zu oft in den Notaufnahmen der Krankenhäuser.

Eine weitere große Gruppe sind Männer über 50 Jahre, die oft keinen Hausarzt haben und merken, dass es in dem Alter ganz ohne medizinische Betreuung doch nicht geht.

Herr Fechner, mit wie vielen Anrufen rechnen Sie täglich bei DocDirekt?

Fechner: Wir haben jährlich tagsüber in Baden-Württemberg 430.000 Patienten, die an Werktagen in Notfallambulanzen der Kliniken landen. Von den Kliniken wissen wir, dass rund zwei Drittel dieser Patienten dort auch hingehören, weil sie eine akute Notfallversorgung benötigen. Bleiben also rund 140.000 Patienten übrig.

Wenn ich dann die Bevölkerung der beiden Pilotregionen – Stuttgart und Tuttlingen – nehme und diese Zahl durch 220 Werktage dividiere, komme ich auf rund 30 bis 40 Patienten pro Tag. Ob dieses Mengengerüst tatsächlich tragfähig ist, wird sich zeigen.

Und wenn mehr Patienten anrufen und die Leitungen ständig belegt sind…

Fechner: …dann müssen wir personell nachrüsten. Bislang haben wir für vier MFA Callcenter-Plätze eingerichtet.

Und wenn sich der Anrufer als PKV-Versicherter herausstellt?

Fechner: Dann können wir nur gute Besserung wünschen und auflegen. Die privaten Krankenversicherungen möchten sich finanziell nicht an DocDirekt beteiligen.

Darf der Telemedizin-Arzt alles, was der Vertragsarzt in der Sprechstunde macht – Stichwort Verordnungen?

Fechner: Auch das ist eine Premiere. Das Sozialministerium hat uns vor wenigen Tagen erlaubt, im Rahmen des Projekts auch verschreibungspflichtige Medikamente zu verordnen.

Und wie kommt das Rezept dann zur Apotheke?

Jünger: Uns ist hier mit dem Online-Rezept ein großer Schritt gelungen. Wir arbeiten bei diesem Projekt nur mit niedergelassenen Apotheken zusammen und nicht mit Online-Apotheken. Der Arzt signiert dazu das Rezept mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, dies ist alles in der Software integriert.

Der Arzt muss sich dafür einmal bei einer Zertifizierungsstelle als Arzt registrieren lassen. Dann wird das Rezept an eine Apotheke übertragen, die sich der Patient ausgesucht hat. Dazu arbeiten wir mit der Plattform apotheken.de zusammen, der sich in Baden-Württemberg bisher rund 2000 Apotheken angeschlossen haben.

Da kommt viel Neues auf einmal zusammen. Fürchten Sie nicht, dass dieses eigentlich kleine Projekt mit Komplexität überladen wird?

Fechner: Natürlich ist unser Projekt komplex – das gilt auch für unser Gesundheitswesen insgesamt. Wir wollen mit DocDirekt primär einen konkreten Fall adressieren: Der Patient ist krank und erreicht seinen behandelnden Arzt nicht.

Hinzu kommt, dass wir eine Auffanglinie in dem Projekt haben. Nämlich die sogenannten "Patientennah erreichbaren Portalpraxen" (PEPP), also Haus- und Facharztpraxen, die für Akutfälle tagesaktuell Termine freihalten, um diese Patienten zu behandeln.

Frau Jünger, die TeleClinic wirbt in einer Präsentation auch als "Alternative zum Hausarzt im Primärarztmodell". Haben Sie dieses Feature auch der KVBW angeboten?

Jünger: Hintergrund dafür sind Hausarzttarife bei privaten Krankenversicherungen, die günstiger sind als die Standardtarife. Darin verpflichtet sich der Versicherte, vor dem Facharztbesuch zum Hausarzt zu gehen und sich eine Überweisung ausstellen zu lassen. Alternativ können die Versicherten auch die TeleClinic anrufen und bekommen dort gegebenenfalls eine digitale Überweisung ausgestellt.

Bisher konnten wir 45 Prozent dieser Anrufer so beraten, dass sie keine Überweisung mehr benötigen. In der GKV gibt es ein solches Primärarztmodell nicht und ich habe bisher auch keinen Weg gefunden, ein solches Modell in der GKV gangbar zu machen.

Herr Fechner, lassen Sie da einen Geist aus der Flasche, den Sie später nicht wieder einfangen können?

Fechner: Das sehe ich so nicht. Die große Mehrheit der Patienten wünscht nach wie vor eine persönliche Beziehung insbesondere zu ihren Hausärzten. Allerdings ist die Telemedizin aus meiner Sicht ein wichtiger Baustein, um den jetzt schon spürbaren Hausarztmangel auf dem Land beherrschbarer zu machen.

Und wenn alles nach Plan klappt …

Fechner: … dann werden wir das Projekt größer ausrollen.

Jünger: Kapazitätsengpässe würde ich in einem solchen Fall weniger in technischer denn in personeller Hinsicht sehen. Wir machen telemedizinische Beratung ja schon bisher bundesweit. Aber Qualität und Patientensicherheit müssen immer Vorrang haben.

So funktioniert DocDirekt

  1. Mit dem Projekt DocDirekt geht die KV Baden-Württemberg bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgung neue Wege. Ausgewählt worden sind dafür zwei Modellregionen, Stuttgart und Tuttlingen. Möglich gemacht hat dies ein Aussetzen des Fernbehandlungsverbots in der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg. DocDirekt ist von der Kammer als Modellprojekt genehmigt worden und muss auch evaluiert werden.
  2. In beiden Regionen können sich – voraussichtlich ab März oder April – gesetzlich versicherte Patienten per Telefon, Videotelefonie oder Chat werktags zwischen 9 und 19 Uhr beraten lassen. In einem Callcenter nehmen vier besonders geschulte MFA die Daten und das Beschwerdebild der Anrufenden auf. Sie erstellen dann ein "Ticket", auf das die bei DocDirekt beteiligten Teleärzte zugreifen können. Vorgesehen ist, dass die Patienten binnen 30 Minuten einen Rückruf erhalten.
  3. Der Telearzt erhebt dann die Anamnese und stellt die Diagnose. Wenn nötig, erhält der Patient am gleichen Tag einen Termin in einer patientennah erreichbaren Portalpraxis (PEP-Praxis). Das Angebot ist auch offen für Versicherte, die an der Hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen. Neuland betreten die Organisatoren mit der Ausstellung eines Online-Rezepts. Nicht vorgesehen ist hingegen die Übermittlung von AU-Bescheinigungen.
  4. Der Telearzt erhält 25 Euro je Anruf außerhalb der budgetierten Gesamtvergütung (MGV). Für die PEP-Praxis ist ein Fallwertzuschlag von 20 Euro sowie die Fall-Vergütung außerhalb der MGV vorgesehen. Teleärzte müssen eine Berufshaftpflicht abschließen, die die Risiken telemedizinischer Behandlung mit einer Deckungssumme von drei Millionen Euro erfasst. (fst)
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