Kostentreiber im Gesundheitswesen
Methusalem schröpft Sozialkassen nicht
Alte Menschen werden oft für die Kostensteigerungen im Gesundheitssystem verantwortlich gemacht. Doch das ist nicht allein ihre Schuld: Andere Faktoren hauen viel mehr rein.
Veröffentlicht:NEU-ISENBURG. Methusalem ruiniert nicht die Sozialkassen. Anders als oft behauptet, ist der demografische Wandel nur eine nachrangige Einflussgröße für den Ausgabenanstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung. Nur rund 17 Prozent der Mehrausgaben gehen auf die Alterung der Bevölkerung zurück.
Wissenschaftler der AOK Niedersachsen und der Medizinischen Hochschule Hannover haben dazu Kostenberechnungen des Bundesversicherungsamts (BVA) für die Jahre 2004 bis 2015 untersucht.
In den sogenannten Altersausgabeprofilen sind die standardisierten Leistungsausgaben je Versichertentag enthalten – standardisiert nach Geschlecht und verschiedenen Leistungsbereichen wie Arzneimittel, Heil- und Hilfsmittel oder ambulante und stationäre Versorgung.
Zudem sind die Daten eingeteilt in 17 Altersklassen aufbereitet. Krankengeldleistungen wurden bei der Analyse nicht berücksichtigt, weil sie keine direkten medizinischen Versorgungskosten darstellen.
Außer der tatsächlichen Ausgabenentwicklung haben die Forscher auch simuliert, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn sich die Altersstruktur der GKV-Population in den elf Jahren nicht verändert hätte. Aus der Differenz zwischen den realen und den fiktiven Ausgaben lässt sich der Effekt des demografischen Wandels ablesen.
Kostenzuwachs von über 50 Prozent
Ergebnis der Wissenschaftler: Die Gesamtausgaben je Versicherten in der GKV sind von 1722 Euro (2004) auf 2656 Euro (2015) gestiegen, ein Zuwachs von 54,2 Prozent. Dabei fällt der Anstieg je nach Leistungsbereich in der GKV sehr unterschiedlich aus: Überdurchschnittlich bei Arzneimitteln (65 Prozent) und der ambulanten Versorgung (59,5 Prozent), unterdurchschnittlich bei Krankenhausausgaben (44,8 Prozent) und vor allem bei der zahnmedizinischen Versorgung (18,7 Prozent).
Der Vergleich mit der fiktiven Ausgabenentwicklung bei einer konstanten Altersentwicklung fällt gar nicht so groß aus. In diesem Fall wären die Ausgaben im Untersuchungszeitraum um 44,9 Prozent gestiegen, von 1722 auf 2495 Euro GKV-Ausgaben je Versichertem.
Der Anteil der demografischen Entwicklung am gesamten Kostenpaket beträgt somit 9,3 Prozentpunkte (die Differenz zwischen den Zuwachsraten 44,9 und 54,2 Prozent). Der Anteil der Alterung an den verschiedenen Kostentreibern beträgt relativ gesehen 17,3 Prozent.
Absolut gesehen haben die Ausgaben pro Jahr um vier Prozent zugenommen. Der Anteil der Demografie daran beträgt 0,7 Prozent. Viel wichtiger waren im Zeitverlauf die Inflation (32,2 Prozent) sowie sonstige Faktoren (50,5 Prozent).
Der letztgenannte Faktor vereint mehrere Einflussgrößen wie den medizinischen Fortschritt, kostenträchtige Produktinnovationen oder von der Politik verursachte Änderungen am Leistungskatalog der GKV. Weil sich deren Wirkungen rechnerisch kaum voneinander trennen lassen, sortierten die Wissenschaftler diese Faktoren in die Kategorie "sonstige".
Problemfall Babyboomer?
Auch der Einflussfaktor Demografie wirkt sich in den einzelnen Ausgabenposten der GKV sehr unterschiedlich aus (siehe nachfolgende Grafik). In der ambulanten ärztlichen Versorgung gehen nur 10,6 Prozent des Kostenanstiegs auf die Alterung zurück, bei Arzneimitteln sind es 15,2 Prozent. Hingegen lassen sich für die stationäre Versorgung 25,9 Prozent der Ausgabensteigerung über die Alterung der GKV-Population erklären.
Hier sehen die Wissenschaftler auch künftig das größte Einflusspotenzial: "Durch die zunehmende Alterung der Babyboomer kann insbesondere in diesem Bereich eine weitere demografiebedingte Zunahme der Gesundheitsausgaben erwartet werden", schreiben die Autoren (Bundesgesundheitsblatt 2018; 61:432-441; DOI: 10.1007/s00103-018-2713-3).
Freilich taugen die Ergebnisse nicht als Basis für Prognosen künftiger Ausgaben, um darauf dann zu erwartende GKV-Beitragssätze abzuleiten. Für Vorhersagen müssten zudem einnahme- und ausgabenseitige Faktoren analytisch voneinander abgegrenzt werden.
Dass dies ein mit vielen Unsicherheiten besetztes Unterfangen ist, zeigen Studien vergangener Jahre, deren Vorhersagen oft kräftig danebengelegen haben.
Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Sozialkosten: Kein Grund für Alarmismus