Neues Onlineangebot

Pflegende Kinder erhalten Hilfe im Netz

Das kranke Geschwisterkind braucht Hilfe, die demente Oma muss nach der Schule betreut werden: Minderjährige und junge Erwachsene mit Pflegeverantwortung erhalten durch eine Onlineberatung jetzt Hilfe.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Nach der Schule die demente Oma beaufsichtigen: Für viele Jugendliche ist das Realität. Eine neue Onlineberatung soll sie unterstützen.

Nach der Schule die demente Oma beaufsichtigen: Für viele Jugendliche ist das Realität. Eine neue Onlineberatung soll sie unterstützen.

© auremar / stock.adobe.com

Essen anreichen, Windeln wechseln, epileptische Anfälle auffangen: Ihre gesamte Jugend hindurch war das selbstverständlich für die 23-jährige Lea Friedrich aus Berlin (Name geändert). Denn ihre elf Jahre jüngere Schwester leidet an Epilepsie. Bis vor Kurzem hat die Familie die kleine Patientin selbst versorgt und gepflegt. Jetzt hilft ein Pflegeteam.

Seitdem weiß Lea Friedrich, dass sie gemeinsam mit ihrer Mutter jahrelang die Arbeit von zehn Leuten gemacht hat – neben der Schule. Mit 14 Jahren sagte sie ihrer Französischlehrerin: "Ich habe die Hauaufgaben nicht geschafft, weil ich mich um meine Schwester kümmern musste." Doch die hatte kein Verständnis dafür.

Dass Kinder und Jugendliche andere Familienmitglieder pflegen, ist im öffentlichen Bewusstsein noch nicht angekommen. "Von der Öffentlichkeit bisher völlig unbeachtet, pflegen und unterstützen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ihre kranken und behinderten Angehörigen zu Hause", sagt Gabriele Tammen-Parr, Leiterin der Berliner Beratungsstelle Pflege in Not. Dabei sind es nicht wenige Betroffene.

Das Zentrum für Qualität in der Pflege geht davon aus, dass in Deutschland rund 220.000 Jugendliche zwischen 13 und 17 Jahren bei der Versorgung von Angehörigen mitwirken. Sie beaufsichtigen die demente Oma, bis die Eltern von der Arbeit nach Hause kommen, übernehmen Einkäufe und Haushaltsarbeiten für die Mutter, die einen Schlaganfall erlitt, und sie kümmern sich um behinderte oder chronisch kranke Geschwister – wie Lea Friedrich.

Belastung und Angst

Die Anfälle von Leas kleiner Schwester haben die Familie auch nachts auf Trab gehalten. Für die Jugendliche war das nicht nur belastend, sondern anfangs auch beängstigend. "Ich wusste ja nicht, was das ist", sagt sie heute.

Dass sie mit ihrer Situation nicht allein ist, hat Lea Friedrich erst mit 17 Jahren bei einem Geschwistermeeting erfahren. "Das war sehr hilfreich und hätte schon früher passieren können", sagt die junge Frau rückblickend.

Ermöglichen soll das nun eine bundesweit einzigartige Onlineberatung, die Pflege in Not im September in Berlin gestartet hat. Das Internetportal www.echt-unersetzlich.de will Jugendliche in Pflegeverantwortung in drei Bereichen unterstützen.

Konkret geht es darum, Wissen über Krankheiten und über Möglichkeiten zur finanziellen oder praktischen Unterstützung zu vermitteln, den Austausch zwischen Betroffenen zu ermöglichen und online zu beraten – passwortgeschützt und auf Wunsch anonym, aber auch persönlich.

"Das Internet ist für Jugendliche bei solch schambesetzten Themen ein sehr guter Zugangsweg", sagt Benjamin Salzmann, der das Projekt bei Pflege in Not leitet. Außerdem ist es ohnehin meist die erste Adresse für diese Altersgruppe. "Wir wissen aus Betroffenenberichten, dass Jugendliche sich Ansprechpartner außerhalb der Familie wünschen. Sie stellen ihre eigenen Sorgen und Bedürfnisse zurück, damit es der Familie gut geht", so Salzmann.

Konkrete Unterstützung soll nun das Portal bieten. Damit will Berlin Vorreiter sein, wie die Berliner Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) beim Start betonte. "In keiner anderen Kommune gibt es vergleichbare Angebote für pflegende Kinder und Jugendliche", so Kolat.

Nötig ist aus ihrer Sicht aber auch ein Bewusstseinswandel. Denn pflegende Jugendliche seien bisher in der öffentlichen Diskussion zu kurz gekommen und: "Sie haben ein Vereinbarkeitsproblem", sagte die Politikerin.

Lehrer und Ärzte sensibilisieren

Damit Lehrer, Ärzte und andere Professionen, die mit pflegenden Jugendlichen Kontakt haben, nicht wie Lea Friedrichs Französischlehrerin reagieren, sondern hellhörig werden, lädt Pflege in Not gemeinsam mit der Pflegeakademie der AOK Nordost seit zwei Jahren Akteure aus Schulen, Gesundheitswesen, Universitäten und Politik zu Dialogforen ein.

Daneben bleibt viel Sisyphosarbeit, wie Dr. Katharina Graffmann-Weschke von der AOK-Pflegeakademie berichtet. "Wir mussten jeden einzeln ansprechen."

Auch der Medizinische Dienst der Krankenkassen wurde nach ihren Angaben dafür sensibilisiert, bei Pflegebegutachtungen auf Minderjährige im Pflegehaushalt zu achten. Für Mai 2018 ist der erste öffentliche Fachdialog in Berlin geplant.

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Kommentare
Dr. Hanneli Döhner 16.09.201712:15 Uhr

Sektorübergreifende Zusammenarbeit muss aufgebaut werden

Gratulation nach Berlin. Ein wichtiges Projekt. Die Notwendigkeit, hier bessere Unterstützungsangebote aufzubauen, haben wir primär aus Erfahrungen in Großbritannien abgeleitet. Mehr zur Entwicklung in Deutschland findet sich auf der Homepage unseres Vereins: wir pflegen - Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland e.V. - www.wir-pflegen.net/jump
Wir können nur hoffen, dass dieses Berliner Projekt auf ganz Deutschland ausstrahlt. Ein interessanter Ansatz wird auch vom BMFSFJ verfolgt. Mehr dazu:
https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/presse/pressemitteilungen/unterstuetzung-fuer-pflegende-kinder-und-jugendliche/119498
Wir möchten auch auf eine Fachveranstaltung in Hamburg am 20. November hinweisen, die von unserer AG JUMP-Junge Menschen mit Pflegeverantwortung in Kooperation mit dem Kompetenzzentrum Demenz in Schleswig-Holstein mit dem Schwerpunkt: "Vereinbarkeit von Schule und familiale Pflege" durchgeführt wird. Wir werden Praxis- und Forschungsergebnisse aus DE und UK vorstellen und Betroffene zu Worte kommen lassen. Die Referatsleiterin Famileinpflegezeit, pflegende Angehörige des BMFSFJ hat die Einführung übernommen. Seien Sie - v.a. auch als Ärztinnen und Ärzte herzlich eingeladen. Die Bereiche Bildung, Soziales und Gesundheit müssen kooperieren, um die Zielgruppe zu erreichen und neue Hilfsangebote zu schaffen. Rückfragen gern an Dr. Hanneli Döhner - doehner@wir-pflegen.net

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