Von der Kö in die hessische Provinz
Die Rückkehr des Badearztes nach Schlangenbad
Die Allgemeinärztin Dr. Sabine Thiel bringt die ganze Region westlich von Wiesbaden ins Schwitzen: als Badeärztin der Gegend. Der "Ärzte Zeitung" erklärt sie, warum sie Patienten Treppen steigen lässt statt eines Belastungs-EKG – und wie sie einmal 75 Patienten an ihrer Zunge erkannte.
Veröffentlicht:Als Badearzt tätig werden? „Die KV wusste gar nicht mehr, wie das geht“, erinnert sich Thiel schmunzelnd. Die heute 54-Jährige hat sich 2015 im ländlichen Schlangenbad – etwa 15 km entfernt von Hessens Landeshaupt Wiesbaden – niedergelassen. Damit der kleinen Gemeinde der „Bäderpfennig“ nicht verloren geht, suchte der Bürgermeister dringend einen Kur- und Badearzt, Thiel schlug ein. Jetzt bringt sie ganz Schlangenbad in Bewegung und ins Schwitzen.
Die Ausbildung zum Badearzt dauert etwa sechs Wochen und ist nicht eben billig. Die Kosten dafür übernahm die Gemeinde Schlangenbad und schickte Thiel an die Ostsee nach Damp. Hier erhielt die Allgemeinärztin Informationen zu Thermal- und Kurpackungen, zum Reha-Turnen oder Kneipp-Aufgüssen – eben Wissen rund um ambulante Badekuren.
Jedes Wasser wirkt anders
„Ich habe kennengelernt, was ortsständige Heilmittel sind“, so Thiel. Dazu gehört zum Beispiel das Wissen, bei welchen Indikationen welches Heilmittel angewandt werden darf und welche Kontraindikationen es gibt. Patienten mit COPD etwa sind gut an der Nordsee aufgehoben.
Und an dieser Stelle – bei dem Stichwort Thermalwasser – gerät Thiel sofort ins Schwärmen: Die vielen Thermalquellen an der Bäderstraße haben alle eine andere Zusammensetzung und entfalten eine andere Wirkung, sagt sie. Das Thermalwasser in Schlangenbad ist zum Beispiel gut für Patienten mit Rheuma, Schmerz oder Hautproblemen, weil es sehr mineralstoffarm und ganz basisch ist. Es ist aber nicht geeignet für Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz. Das Wasser in Bad Soden ist sehr eisenreich, das in Bad Schwalbach ist hingegen kohlensäurehaltig und, und, und ...
Oase in immer verrückteren Zeiten
Badeärzte haben schon seit jeher – auch überregional – geforscht und viel veröffentlicht, sagt Thiel. Als Badearzt tätig zu sein, bedeutet eine „historisch gewachsene Leidenschaft für einen Ort zu entwickeln, der schon immer eine Oase in einer immer verrückter werdenden Zeit darstellt“, zitiert sie aus einer alten Quelle Anfang des 17. Jahrhunderts.
Und Schlangenbad, dessen Wahrzeichen die Äskulapnatter ist, war über drei Jahrhunderte einer der bevorzugten Kurorte europäischer Königshäuser. Fürsten und Prinzessinnen mit großem Gefolge.
Kardinäle, Generäle, Diplomaten, Schriftsteller und Bankiers residierten hier zur Erholung und Heilung. Im historischen Schlangenbader Haus „Ingeborg“ etwa lebte der Badearzt Dr. Enrique Müller de la Fuente Anfang des 19. Jahrhunderts. Schlangenbad ist „der Ort mit Zeit“, der den Menschen hilft, in dem rasanten Tempo von heute aufzuatmen, innezuhalten und frische Luft zu tanken.
Gemeinde erhält "Kurpfennig"
Das Kurwesen ist mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Horst Seehofer leider baden gegangen, meint Thiel. Mit einem Honorar von etwa 100 Euro im Quartal lohnt sich die Ausbildung zum Badearzt heute nicht mehr. Für die Gemeinde Schlangenbad ist Thiel ein Segen.
Durch die Qualifikation des Baderarztes erhält die Gemeinde den sogenannten „Bäderpfennig“, eine Entschädigung für die besondere Belastung der Kurorte, die keine Industrie ansiedeln können, damit ihre Luft und Quellen rein bleiben. Dies bedeutet etwa 200.000 Euro jährlich, die Schlangenbad für den Erhalt der historischen Quellen und Häuser zur Verfügung stehen.
Die Abrechnung der ambulanten Kuren erfolgt zentral über die KV Westfalen-Lippe, die KV Hessen musste sich nur um die Zulassung als Badearzt kümmern. Allerdings war das auch nicht so ganz einfach, weil die KV gar nicht mehr wusste, wie das geht. „Die Abrechnung erfolgt teilweise noch handschriftlich und läuft sehr altertümlich.“ Dabei zeigt Thiel auf einen alten Drucker, den sie nur noch für diese Sache benötigt.
Ärzte verschreiben kaum noch ambulante Kuren, meint Thiel. Dabei belasten sie mitnichten das Budget, wie viele Ärzte glauben würden. Voraussetzung ist nur, dass die Kasse die Kur genehmigt. Sollten Kollegen solch eine präventive Maßnahme für angezeigt halten, rät Thiel „ortständige Heilmittel“ zu verordnen, damit der Badearzt vor Ort die passenden Heilmittel festlegen kann. Denn Prävention ist besser als Nachsorge!
Sportparcours verbindet Orte
Nur einfach Badeärztin für Schlangenbad zu sein, ist der agilen Allgemeinärztin aber nicht genug: „Ich will den Badearzt neu erfinden“, sagt sie. Wie das geht? Letztes Jahr stellte Thiel mit Gemeinderatsmitgliedern ein neues Projekt auf die Beine: Einen präventiven Sportparcours im Kurpark.
Anfang des Jahres hatten sich schon Spender und Tatkräftige gefunden, erste Löcher wurden gebuddelt und Multifunktionstrainer, Steuerräder, Ruderbänke etc. in den Park gebaut, inklusive Tafeln mit Übungshinweisen. Im August kam die nächste Station hinzu, um einen Rundwanderweg „Schlangenbad bewegt sich“, der die Ortschaften Schlangenbad, Bärstädt und Hausen von der Höhe zu verbinden und zu komplettieren. Auf der Website können sich Interessierte anschauen, wie der Rundwanderweg verläuft und welche Stationen mittlerweile aufgebaut wurden.
Als gutes Vorbild lädt Thiel jeden Mittwoch von 17 bis 18 Uhr zum gemeinsamen Training an den Geräten im Kurpark Schlangenbad ein. Seit November ist Winterpause, im Frühjahr geht’s auf jeden Fall weiter.
Aktuell freut sich die Allgemeinärztin darüber, dass sie vom Präventionsrat des Rheingau-Taunus-Kreises für ihr Projekt „Schlangenbad bewegt sich“ den Präventionspreis 2018 erhalten hat. Die Preisübergabe fand Anfang Dezember statt; das erhaltene Preisgeld von 300 Euro fließt selbstverständlich ins Projekt, so Thiel.
Treppe statt Belastungs-EKG
Dann klopft es an der Tür: Die Familie A. möchte ihren Tee abholen, meint die MFA zu Thiel, die hinter sich greift und ein Glas mit getrockneten grünen Blättern aus dem Regal zieht. Sie empfiehlt die „Eberraute“, ein „tolles Wermutsgewächs, das das Immunsystem stärkt und gut für den Magen ist“. 30 Ableger hat die Ärztin gerade wieder für Patienten gezogen.
Naturheilkunde ist für die Allgemeinärztin neben der Schulmedizin selbstverständlich. Einen 84-jährigen Patienten mit Bronchialkarzinom etwa, der sich gegen Lungenpunktion oder weitere Chemotherapien entschieden hat, begleitet sie derzeit auch mit dem Einsatz von Kräutern und Misteln.
Es klopft wieder und die MFA berichtet über den Patienten B. Der Puls und der Blutdruck habe vor dem Treppensteigen so und so betragen, nach dem Treppensteigen so und so und bei anschließender Ruhe so und so. „Ist prima“, sagt Thiel, „dann müssen wir nichts weiter machen“ und meint augenzwinkernd: „Wozu brauchen Hausärzte ein Belastungs- EKG, wenn sie Treppen haben?
75 Patienten an der Zunge erkannt
Von der Zungendiagnostik hält die Hausärztin ebenfalls sehr viel. Mit der Wette „Ich kann 75 meiner Patienten nur an der Zunge erkennen“ hat sie schon einmal bei Thomas Gottschalks „Wetten das“ mitgemacht. Und, hat es geklappt? Natürlich, winkt Thiel ab – überflüssig zu fragen.
Bevor Thiel nach Schlangenbad kam, war sie rund 17 Jahre in Düsseldorf/Neuss niedergelassen. Dort hat sie unter anderem mit 12 Kollegen ein großes Ärztehaus „auf der Kö“ in der Drususallee“ gebaut.
Aber wie kann es sein, dass eine Hausärztin nach so vielen Jahren in der Stadt plötzlich in eine kleine beschauliche Gemeinde wechselt und das große, moderne Ärztehaus hinter sich lässt? Thiels Ehemann, selbst Arzt, hat in einer nahe gelegenen Klinik einen Posten als Chefarzt erhalten und so zog es die Allgemeinärztin ins Rhein-Main-Gebiet.
Auf der Suche nach einem neuen Standort für die Niederlassung sollte es nicht die Stadt sein. „Ich mag das Land, warum sollte ich nicht auch auf dem Land leben und arbeiten wollen?“, sagt sie und zeigt auf den tollen Ausblick aus dem Sprechzimmer in den herbstlichen und sonnendurchfluteten Kurpark.
Über die schlechte Infrastruktur vor Ort macht sich die Hausärztin schon Gedanken. Da muss etwas passieren. Aus dem angrenzenden Wispertal etwa schaffen es ältere Leute kaum, in die Praxis zu kommen. Die Busse fahren selten und an präventiven Bewegungsangeboten der Krankenkassen hapert es auch. „Wir haben schon überlegt, ob wir die Fußballer, wenn sie zum Sportplatz gehen, ansprechen sollen, damit sie die alten Leute mit zum Parcours nehmen.“
Hausärztin durch und durch
Thiel ist aus tiefster Seele überzeugte Hausärztin. Das ist sie schon geworden, als der Hausarzt unter Fachärzten eher belächelt wurde. Zum Hausarztdasein gehören für sie drei Dinge: Die gelebte Anamnese, die Abwendung von gefährlichen Verläufen und die Gesundheitserziehung. Die Palliativmedizin gehört für sie ebenso zum Selbstverständnis eines Hausarztes: „Man kann Patienten doch nicht in dieser entscheidenden Lebensphase alleine lassen!“
Die Schönheit des Hausarztberufes sowie das umfassende Wissen möchte Thiel an angehende Ärzte weitergeben: Sie ist ganz noch Lehrbeauftragte an der Uni Mainz, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Vielleicht, so hofft sie, kann sie den ein oder anderen Studenten für die Hausarztmedizin begeistern.
In Schlangenbad hat die Badeärztin noch einiges vor. „Die wissen hier gar nicht, was sie sich mit mir eingefangen haben“, meint sie verschmitzt. Ihre Vision: Schlangenbad wieder zu einem bekannten Ort der Gesundheit und Prävention zu machen. Eine erste Aktivität dazu: Schlangenbad soll Teil des „Gesunde Städte-Netzwerk“ der WHO werden. Normalerweise sind das größere Städte, meint Thiel, aber ein Versuch ist es allemal wert.
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