Digitalisierung

"Wir müssen den Patienten zum Souverän seiner Daten machen"

Neben der Pflege steht die Digitalisierung ganz oben auf der gesundheitspolitischen Agenda. Was ist zu tun? Fragen an den Leiter der neuen Abteilung Digitalisierung im Bundesgesundheitsministerium, Dr. Gottfried Ludewig, den Vorsitzenden des Ausschusses Gesundheitswirtschaft beim BDI, Professor Hagen Pfundner, und den Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse, Dr. Jens Baas.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Im Interview der Ärzte Zeitung: Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium, Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, Hagen Pfundner, Roche Pharma AG mit Helmut Laschet (v.l.).

Im Interview der Ärzte Zeitung: Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium, Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK, Hagen Pfundner, Roche Pharma AG mit Helmut Laschet (v.l.).

© Schulten

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Ludewig, es gibt Baustellen in Deutschland, da ist der Fortschritt eine Schnecke – neben dem neuen Berliner Flughafen ist das die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Nach wenigen Wochen im Amt als Leiter der neuen Abteilung Digitalisierung: Haben Sie schon eine Diagnose für die persistierenden Lähmungserscheinungen?

Dr. Gottfried Ludewig: Zum einen: Gesundheit ist nicht ein Gut wie jedes andere, an dem wir einfach alles Mögliche austesten können. Außerdem gibt es viele Akteure im Gesundheitswesen, die zu häufig lieber das bestehende System bewahren wollen und Digitalisierung mit vorgeschobenen Argumenten verhindern, anstatt Neues zu wagen. Dazu sind wir aber verpflichtet zum Wohle der Patienten. Wir wollen die Digitalisierung im Gesundheitswesen beschleunigen und nehmen dazu alle Beteiligten in die Pflicht.

Herr Dr. Baas, der Techniker Krankenkasse ist offenbar der Geduldsfaden gerissen und Sie haben eine kasseneigene elektronische Gesundheitsakte an den Start gebracht. Was kann diese E-Akte?

Jens Baas: Direkt zum Start können wir unseren Versicherten die Daten in ihre Akte übertragen, die wir als Krankenkasse von ihnen haben zum Beispiel die verordneten Medikamente, die wir ja bezahlt haben. Welche das genau sind, weiß der Patient heute im Zweifelsfall oft gar nicht, wenn er zum Arzt geht und ihm sagt "Ich habe diese kleinen blauen Pillen bekommen". Mit der Akte hat er seine gesamte Medikation auf seinem Smartphone parat und kann diese dem Arzt transparent machen, etwa um Wechselwirkungen zu erkennen. Er hat ferner Diagnosen und Impfungen in seiner Akte oder auch Krankenhausbefunde. Alles an einer Stelle. Weitere Funktionen werden wir schrittweise ergänzen.

Und wie wird die Akte befüllt? Beispielsweise von niedergelassenen Ärzten? Auch von Pflegepersonal?

Baas: Der Versicherte allein bestimmt, wer die Akte befüllt. Das kann die Krankenkasse sein. Oder er kann das Krankenhaus ermächtigen, den Entlassbericht in die Akte einzuspielen. Perspektivisch kann er auch vom niedergelassenen Arzt Daten einstellen lassen. Das geht heute noch nicht, weil die Telematikinfrastruktur noch nicht arbeitet und es bisher auch noch keine flächendeckende sichere Alternative dazu gibt. Er kann aber selbst gekaufte Arzneimittel scannen und in die Akte aufnehmen. Unser Anspruch muss sein, alle Akteure im Gesundheitswesen, also beispielsweise auch den Physiotherapeuten, einzubinden. Wir starten jetzt aber bewusst mit dieser Version der Akte und warten nicht darauf, bis alles komplett fertig ist – sonst kommt nie Bewegung ins System. Der Ausbau erfolgt dann Schritt für Schritt.

Ludewig: Ich will da Herrn Baas ausdrücklich unterstützen. Wir müssen lernen, dass wir die 100 Prozent von heute auf morgen nicht umsetzen können. Das hat viele Prozesse bei uns gelähmt. Wir müssen lernen, uns darauf zu beschränken, schrittweise, Ausbaustufe für Ausbaustufe voranzugehen. Deshalb freuen wir uns über Kassen, die jetzt vorangehen und eigene Modelle machen. Für uns ist wichtig, dass die Daten austauschbar sein müssen und dass Wettbewerb entsteht. Wir müssen dabei auch verstehen, dass wir nicht wissen, wie die Welt in vier, fünf Jahren aussieht.

Ist die Akte auch portabel, etwa bei einem Kassenwechsel?

Baas: Absolut. Es kann nicht eine Akte der TK und Akten anderer Kassen geben, die nicht miteinander kompatibel sind. Es muss gewährleistet sein, dass der Versicherte seine Daten mitnehmen kann. Und ich kann dem Arzt nicht zumuten, dass er mit hundert verschiedenen Typen von E-Akten umgeht.

Haben Sie ein Mindestanforderungsprofil, zum Beispiel wenigstens ein Notfall-Datenset? Das beispielsweise am Unfallort für den Notfallarzt verfügbar ist, vor allem wenn der Verunglückte selbst nicht mehr handlungsfähig ist.

Baas: Das geht heute noch nicht. Denn in der Variante, die wir heute haben, muss der Versicherte aktiv den Zugang gestatten. Es ist aber in der Tat geplant, dass der Versicherte angeben kann, dass bestimmte Personenkreise, etwa Notfallärzte, Daten abrufen können.

Also im Moment gilt dann noch: Datenschutz vor Gesundheitsschutz...

Baas: Nein. Aber im Moment ist es erst einmal wichtig, dass die Patienten endlich selbst zum Souverän ihrer Daten werden und dass die Daten nicht einfach von jedem mit einem Heilberufeausweis abgerufen werden können.

Dr. Jens Baas: Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse
Karriere: Arzt in der Chirurgie der Unikliniken Heidelberg und Münster; 1999 Wechsel als Unternehmensberater zur Boston Consulting Group, 2007 Partner; seit 2011 TK-Vorstand.

Dr. Jens Baas: Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse Karriere: Arzt in der Chirurgie der Unikliniken Heidelberg und Münster; 1999 Wechsel als Unternehmensberater zur Boston Consulting Group, 2007 Partner; seit 2011 TK-Vorstand.

© Schulten

Herr Professor Pfundner, die Gesundheitswirtschaft im Bundesverband der Deutschen Industrie drängt zu mehr Tempo bei der Digitalisierung. Zuerst die Frage: Lässt sich der Mehrwert für Patienten schon jetzt beschreiben?

Dr. Hagen Pfundner: Der Trend zur Selbstvermessung des Bürgers und auch des Patienten ist ein im positiven Sinn disruptiver Prozess, der dazu führt, dass Menschen, auch Kranke, sich Gedanken darüber machen, wie sie neue Technologien nutzen können. Ein Beispiel aus meinem Unternehmen: Wir haben das Digital Health Unternehmen mySugr im letzten Jahr gekauft. Die mySugr App ist mit mehr als 1,3 Millionen Nutzern die weltweit führende Diabetes-Management App. Das Besondere an mySugr ist, dass die Gründer und auch ein großer Teil des Teams selbst mit Diabetes leben und auf Basis ihrer eigenen Erfahrung en mit intelligenten Lösungen dazu beitragen möchten, dass Menschen mit Diabetes ihre Erkrankung einfacher im Alltag managen können und bessere Therapieergebnisse erzielen. Das umfangreiche Leistungspaket wird nun auch von Krankenkassen in Deutschland erstattet.

Viele Diabetiker haben ja Probleme mit dem Selbst-Management ihrer Krankheit ...

Pfundner: Ja, zunächst profitieren die informierten, aktiven Patienten davon. Aus diesen Patientengruppen kann man aber sehr viel ableiten: Wann und für wen ist beispielsweise eine Ernährungsberatung sinnvoll? Und wenn man sieht, dass diejenigen Patienten, die eine diätetische Beratung in Anspruch genommen haben, ihren Blutzucker besser unter Kontrolle haben, einen verbesserten HbA1c erzielen oder mittel- und langfristig dadurch auch Folgekomplikationen vermieden werden, dann ist das ein Mehrwert für Menschen mit Diabetes. Die Krankenkassen sind froh, dass ihre Ressourcen wirksamer bei Patienten eingesetzt werden – und so haben wir als Unternehmen ein Geschäftsmodell, das wir mit Krankenkassen gemeinsam umsetzen können.

Eines ist mir wichtig: Wir sind nie an Daten einzelner Patienten interessiert, sondern nur an Kollektiven und an anonymen Datensets.

Glauben Sie, dass das unter Patienten konzentrische Kreise ziehen kann, dass schließlich auch Patientengruppen profitieren, die zunächst einmal abseits stehen?

Pfundner: Das sehen wir heute schon. Denn mit Hilfe des offenen Ansatzes von mySugr können Menschen mit Diabetes bedarfsgerecht viele Aufgaben des täglichen Therapiemanagements von der Anwendung übernehmen lassen – sei es die Dokumentation der Blutzuckermesswerte, die automatisch erfolgt, die Berechnung der Insulindosis oder die Erkennung von wiederkehrenden Mustern im Blutzuckerverlauf über spezielle Algorithmen mit entsprechenden Tipps zur Optimierung. Dieser Mehrwert spricht sich schnell herum, was die stetig steigenden Nutzerzahlen belegen. Die Erstattung durch Krankenkassen trägt ebenfalls dazu bei, dass mehr Patienten Zugang zu diesem umfassenden Versorgungsangebot erhalten.

Ist der Arzt derjenige, der die Teilnahme anstoßen soll oder kann?

Pfundner: Die Daten, die in der mySugr Anwendung erfasst werden, stehen dem Arzt und der Diabetesberaterin basierend auf der Einwilligung des Patienten zur Verfügung. Früher haben Patienten die Messwerte manuell in Tagebüchern eintragen müssen, das passiert heute automatisiert per digitaler Datenübertragung vom Messgerät in die App oder in das System in der Arztpraxis. Die Zeit mit dem Arzt ist so deutlich effektiver nutzbar, denn aufgrund von mehr und besseren Informationen können Arzt und Patient sehr viel gezieltere Therapieanpassungen vornehmen.

Baas: "mySugr" ist ein schönes Beispiel dafür, was passiert, wenn man in Deutschland eine Entwicklung verschläft. Da die Förderbedingungen zum Zeitpunkt der Gründung von mySugr in Österreich Start-up-freundlicher waren, ist das deutsch –österreichische Gründerteam in Wien ansässig geworden. Die Idee hat sich in 61 Ländern etabliert und das Paket wird nun auch in Deutschland von einzelnen Kassen erstattet. Ziel ist, das Angebot flächendeckend in Zusammenarbeit mit allen namhaften Krankenkassen anzubieten.

Big Data soll Algorithmen zur Unterstützung für ärztliche Entscheidungen zur Verfügung stellen. Kritisch könnte es dann werden, wenn Künstliche Intelligenz den Arzt oder Ärzteteams bevormunden. Sehen Sie das als Gefahr?

Pfundner: Nein, überhaupt nicht. Eine Gefahr ist die "German Angst".

Ähnlich wie bei der Gentechnik?

Pfundner: Ja. Nehmen wir das Beispiel Gendiagnostik: So gehen Daten, im Rahmen einer Multigenanalyse anfallen, anonymisiert in ein weltweites Datennetz ein – um Muster zu erkennen, um sehr seltene Tumorerkrankungen zu charakterisieren oder um neue Ursachenmuster zu identifizieren. Im Übrigen wird diese Leistung den Ärzten von den Krankenkassen erstattet. Auf Basis der Analyse wird eine Übersicht möglicher Therapieoptionen generiert und den behandelnden Ärzten zur Verfügung gestellt. Die Entscheidungshilfe, die nun dem Arzt angeboten werden kann, kann er selbst in seiner Praxis oder in seinem Praxisumfeld gar nicht generieren. So designen wir unsere Produkte: als Entscheidungshilfe für Ärzte. Die ärztliche Entscheidungsfreiheit bleibt und wird nie infrage gestellt werden. Auch die Verantwortung des Arztes oder der Ärztin nicht.

Ludewig: Bei aller Berechtigung von kritischer Betrachtung technologischer Entwicklungen: Wir müssen uns auch die Gegenfrage stellen – was passiert, wenn wir diese Technologie nicht einsetzen? Zum Beispiel Fehlmedikation. Zum Beispiel bei der Diagnostik seltener Erkrankungen. Dabei geht es auch um Menschenleben. Wenn wir neue Möglichkeiten nicht nutzen, versagen wir Kranken eine bessere Behandlung oder gar Heilung. Wir haben also aus meiner Sicht auch eine ethische Verantwortung, die Digitalisierung im Gesundheitswesen im Sinne der Patienten zu nutzen.

Baas: Da würde ich fast noch einen Schritt weiter gehen: In 10 oder 15 Jahren könnte es sogar illegal sein, eine Diagnose zu stellen, ohne dafür auch ein Expertensystem zurate zu ziehen. Alles andere wäre dann ein Kunstfehler.

Dennoch: Angesichts einer beginnenden Allianz zwischen Krankenkassen und Big Pharma könnte einem blümerant werden – zwei anonyme Mächte, die ärztliche Entscheidungen präformieren...

Pfundner: Nein, ganz im Gegenteil! Stellen Sie sich vor, wir als Industrie würden alleine ein solches Produkt einführen. Dann würde man uns den Vorwurf der Gewinnmaximierung machen. Wenn die Krankenkassen allein solch ein Produkt anbieten würden, dann würde man ihnen den Vorwurf machen, sie wollten nur die Kosten senken. Wenn Industrie und Krankenkasse gemeinsam ein Produkt entwickeln, könnte doch auch der Gedanke aufkommen, dass sich zwei Starke zusammentun, die bei manchen Interessengegensätzen ein gemeinsames Anliegen haben: effizient Versorgung zu gestalten. Ich sehe das als Chance!

Professor Dr. Hagen Pfundner: Vorstand Roche Pharma AG Deutschland; Geschäftsführer Roche Deutschland Holding GmbH, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Vorsitzender des Ausschusses industrielle Gesundheitswirtschaft.
Karriere: 1992 Eintritt bei Hoffmann-La Roche AG Deutschland; 1995 Global Business Leader für Entzündungs- und Knochenkrankheiten bei Roche Schweiz; 1998 Mitglied der Geschäftsleitung Roche in Kanada; 2001 Global Business Director Virology bei Roche Ltd. in der Schweiz; 2003 Geschäftsführer Roche Schweden. Vorsitzender des vfa 2011-2017

Professor Dr. Hagen Pfundner: Vorstand Roche Pharma AG Deutschland; Geschäftsführer Roche Deutschland Holding GmbH, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Vorsitzender des Ausschusses industrielle Gesundheitswirtschaft. Karriere: 1992 Eintritt bei Hoffmann-La Roche AG Deutschland; 1995 Global Business Leader für Entzündungs- und Knochenkrankheiten bei Roche Schweiz; 1998 Mitglied der Geschäftsleitung Roche in Kanada; 2001 Global Business Director Virology bei Roche Ltd. in der Schweiz; 2003 Geschäftsführer Roche Schweden. Vorsitzender des vfa 2011-2017

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Sie meinen, die kontrollieren sich auch gegenseitig?

Pfundner: Ja, auf jeden Fall ergänzen sie sich gegenseitig. Und jeder Partner legt auch seine Interessen dabei offen.

Baas: Ich freue mich, dass die pharmazeutische Industrie das inzwischen macht. Denn sie hat schon heute die Kompetenz, große Datenmengen zu analysieren.

Ludewig: Aber die Besorgnis über den Einfluss angeblich anonymer Mächte müssen wir wahrnehmen. Es ist eine Aufgabe und Verpflichtung für die Industrie und die Kassen, der Öffentlichkeit gegenüber transparent zu sein und auch den Nutzen für Patienten klar zu machen. Das ist das wirkungsvollste Mittel gegen Verschwörungstheorien.

Pfundner: Das größere Dilemma für die digitale Gesundheitswirtschaft ist allerdings, dass sie zu Transparenz führen wird.

Baas: Böses Wort!

Pfundner: Ja, denn diese Transparenz ist nicht überall gewünscht. Ich bin überzeugt, dass diese Transparenz auch dazu beitragen wird, dass wir unser Gesundheitssystem nachhaltig auf hohem Niveau gestalten können. Verschwörungstheorien sind meiner Meinung nach gewollte Störfeuer. Wenn Sie betroffene Kranke fragen, ob sie bereit sind, Daten zu teilen, dann kriegen Sie mit überwältigenden 80 Prozent ein Ja. Es liegt in der menschlichen Natur, aus der Schicksalserfahrung anderer Menschen mit einem möglicherweise ähnlichen Schicksal helfen zu wollen. In einem viel beachteten Memorandum zu Gesundheitsdaten hat der Deutsche Ethikrat dazu den Grundsatz aufgestellt: "Teilen ist heilen".

Ludewig: Wir müssen da präziser sein. Transparenz heißt für mich, dass der Patient Souverän seiner Daten ist. Er soll eben nicht zum gläsernen Bürger werden. Vielmehr soll er den Anspruch haben, alle seine Daten zu kennen. Damit machen wir das Gesundheitssystem transparent gegenüber dem Patienten. Gerade auch mit Blick auf die Versorgung werden wir hierdurch deutliche Schritte nach vorn kommen, alles mit dem Ziel einer noch besseren Gesundheitsversorgung.

Gesetzt, es gibt die Möglichkeit, interoperable Datenbestände zu schaffen, die aus den unterschiedlichsten Quellen im Gesundheitswesen stammen – wer soll diese Daten nutzen dürfen? Nur staatliche oder gemeinnützige Institutionen wie Kassen? Oder alle Beteiligten im Gesundheitswesen, auch die industrielle Forschung?

Ludewig: Eine einfache Antwort: Der Patient ist der Souverän. Er entscheidet, wer seine Daten nutzen darf. Punkt. Wir müssen aufhören, uns als Erziehungsberechtigte des Patienten aufzuspielen.

Pfundner: Meine Überzeugung ist: Wenn wir ein digitales Produkt in den Markt bringen und der Arzt beim Patienten die Einwilligung einholt, ob seine Daten anonym auch der industriellen Forschung zur Verfügung gestellt werden dürfen, dann bin ich sicher, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Patienten dem zustimmen wird. Die Patienten werden konstruktiv entscheiden.

Die europäische Datenschutzgrundverordnung enthält keine Regelungen zur Datennutzung. Anders die USA, die mit 18 Kriterien für die Anonymisierung eine operationale Definition für den Zugang der Forschung für Daten geschaffen haben. Eine Option für Deutschland?

Pfundner: Wenn wir von den USA lernen können, dann sollten wir das tun. Es geht aber jetzt darum, die vorliegende EU-Datenschutzgrundverordnung für den Gesundheitsbereich als Chance zu nutzen. Da haben wir in Deutschland eine besondere Herausforderung: 50 Öffnungsklauseln für die Umsetzung der EU-Verordnung und 16 Bundesländer mit eigenen Datenschutzbeauftragten. Wenn wir Forschung mit Daten machen wollen, dann ist mein Anliegen, dass wir das in Europa und vor allem in Deutschland so regeln, dass wir Innovationen nicht blockieren, dass wir dem Patienten als Souverän seiner Daten gerecht werden und dass wir Datenschutz und Datensicherheit angemessen adressieren.

Baas: Richtig, das Problem ist die Interpretation in 16 Bundesländern. Wenn wir die Datenschutzgrundverordnung als Mittel sehen, den Patienten vor sich selbst zu schützen, dann kommen wir nie voran.

Ludewig: Wir müssen die Datensouveränität dem Patienten geben. Wir müssen aufpassen, dass wir es in Deutschland nicht komplizierter machen als in allen anderen EU-Ländern.

Dr. Gottfried Ludewig: Leiter der neu geschaffenen Abteilung Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium.
Karriere: 2007-2010 RCDS-Bundesvorsitzender, 2006 bis 2007 AStA-Vorsitzender der TU Berlin, 2011-2018 Mitglied der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, gesundheitspolitischer Sprecher, 2014-2018 Fraktionsvize, 2015- 2017 Senior Consultant PricewaterhouseCoopers.

Dr. Gottfried Ludewig: Leiter der neu geschaffenen Abteilung Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium. Karriere: 2007-2010 RCDS-Bundesvorsitzender, 2006 bis 2007 AStA-Vorsitzender der TU Berlin, 2011-2018 Mitglied der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, gesundheitspolitischer Sprecher, 2014-2018 Fraktionsvize, 2015- 2017 Senior Consultant PricewaterhouseCoopers.

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Herr Pfundner, der BDI fordert eine "ausgeglichene Governance"? Was ist darunter zu verstehen?

Pfundner: Wir brauchen einen "agilen" Rechtsrahmen. Dazu ein Beispiel: Facebook gibt es jetzt seit 14 Jahren. Eine Gesetzgebung für Facebook zu antizipieren, geht nicht. Wir wissen heute in der digitalen Gesundheitswirtschaft nicht, welche Produkte wir in vier oder fünf Jahre entwickelt haben und einsetzen können. Dafür brauchen wir dann aber einen agilen, auf die jeweilige digitale Entwicklung adaptierten Rechtsrahmen. Den können wir uns heute noch nicht recht vorstellen. Ein solcher Rechtsrahmen muss dynamisch sein, Auswüchse sanktionieren, aber auch Hindernisse beseitigen und Türen öffnen.

Ludewig: Wir sind mitten in einer revolutionären Entwicklung. Wir müssen verstehen, dass wir nicht wissen, wie die Welt in vier Jahren aussieht. Mit dieser Unsicherheit müssen wir umgehen. Als Robert Koch geforscht hat, konnte der Rechtsrahmen auch nicht alle Entwicklungen der folgenden Jahre abbilden. Deshalb brauchen wir eine dynamische Gesetzgebung, die auch deutlich schärfer mit Sanktionen bei Missbrauch reagiert.

Würde zur Governance auch gehören, dass der Staat konkrete Verpflichtungen schafft, wer in die Bereitstellung einer technischen Infrastruktur Geld investieren muss – und innerhalb welcher Zeit Investitions- und Versorgungsziele erreicht werden müssen?

Ludewig: Der Aufbau der Telematik-Infrastruktur dauert jetzt schon fast zwei Jahrzehnte – viel zu lange. Das müssen wir mächtig beschleunigen. Es ist unser erklärtes Ziel, dem Patienten seine Daten zu geben. Dafür brauchen wir schnellstmöglich den Einstieg in die elektronische Patientenakte. Und zwar eine, auf die der Patient, wenn er möchte, auch mit seinem Smartphone zugreifen kann. Die Finanzierung wird dabei sicherlich nicht zulasten der Versicherten gehen. Die Regelungen werden wir rechtzeitig anpassen. Wichtig ist, dass wir jetzt weiter Geschwindigkeit aufnehmen, um dem Patienten die Vorteile der digitalen Infrastruktur deutlich zu machen.

Baas: Wenn wir die Geschwindigkeit, die das Bundesgesundheitsministerium in den letzten Wochen und Monaten vorgelegt hat, auch in den letzten Jahren geschafft hätten, dann wären wir deutlich weiter.

Pfundner: Deshalb kann ich Herrn Baas mit seinem Ansatz einer kassenindividuellen E-Akte gut verstehen. Das beschleunigt die Entwicklung. Sein Pech wäre, wenn er seine Lösung einstampfen muss, weil es eine bessere Lösung gibt. Die Vielfalt der Ansätze ist irritierend, aber das bringt Geschwindigkeit.

Eine letzte Frage an Herrn Ludewig: Haben Sie schon eine konkrete To-Do-Liste?

Ludewig: Nein, denn die wird jeden Tag länger. Im Ernst: Auf Top 1 steht der schnelle Aufbau der Telematikinfrastruktur. Top 2 ist, digitale Anwendungen stärker in die Regelversorgung zu bringen. Top 3 ist das Thema Umgang mit Daten: Wie stärken wir die Souveränität des Patienten über seine Daten? Und wie können wir moderne Technologie dafür nutzen, dass bei immer mehr Krankheiten qualitativ bessere Behandlungen oder gar Heilung möglich werden?

Das Interview entstand mit freundlicher Unterstützung der Roche Pharma AG

Das Interview wurde geändert am 25.6. 20018 um 14.30 Uhr

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