Versorgungsdefizite bei Adipösen
Der Rat "Mehr bewegen!" reicht nicht
Die Versorgung von Adipositas-Patienten lässt die Betroffenen noch zu oft allein. Defizite gibt es bei Hausärzten wie auch in der Langzeitbetreuung, monierten Experten bei einem Symposium.
Veröffentlicht:NORDERSTEDT. Viele Ärzte und Betroffene halten die Versorgung Adipöser in Deutschland für unzureichend. Enttäuscht ist man von Politik und Krankenkassen, aber auch von der Einstellung vieler Ärzte. Dies wurde auf dem zehnten Adipositassymposium im Johnson & Johnson Institute in Norderstedt deutlich.
Unter den mehr als 300 Teilnehmern waren auch Vertreter der Selbsthilfe. Michael Wirtz von der Adipositas-Hilfe Nord etwa kritisierte, dass schwer adipöse Patienten zu lange auf Operationen warten und zu weit fahren müssen, um Schwerpunktpraxen zu finden. Sein Verein will nun politisch aktiver werden.
Mit Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit will der Verein erreichen, dass die Probleme der schweren Patienten ernster genommen werden. Viel erreicht wäre nach seiner Auffassung schon, wenn Ärzte auf die Probleme der Adipösen nicht mehr mit dem lapidaren Hinweis, sich mehr zu bewegen, reagieren würden.
Nach Wahrnehmung von Wirtz hat sich in den vergangenen Jahren bei der Versorgung von adipösen Patienten zu wenig verbessert: "Wir drehen uns im Kreis."
Stagnation in der Versorgung
Dies bestätigte auch Professor Dieter Birk. Der Vorsitzende des diesjährigen Symposiums und erster Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Adipositas und metabolische Chirurgie, nannte mehrere Ursachen für die Stagnation:
»Informationsdefizite in der Gesellschaft und in der Ärzteschaft über Adipositas als Krankheit. Dies äußert sich nach seiner Beobachtung durch Vorurteile, Schuldzuweisungen und Stigmatisierung.
»Mangelhafte Versorgung: In ganz Deutschland gibt es nach seinen Angaben nur rund 80 Schwerpunktpraxen und kein flächendeckendes Angebot an Patientenschulungsprogrammen. Folge ist eine geringe Inanspruchnahme.
»Defizite in der hausärztlichen Versorgung: In Hausarztpraxen nimmt Birk zum Teil mangelndes Wissen über die bestehenden Therapiemöglichkeiten und eine Überforderung durch zeitintensive und komplexe Therapien wahr. "Adipöse Patienten können schwierige Patienten sein", räumte Birk ein.
»Fehlende Langzeitbetreuung: Birk vermisst Versorgungsangebote zur Umsetzung leitliniengerechter Nachsorge. Damit wird aus seiner Sicht der Langzeiterfolg der Therapieansätze gefährdet.
Um diese Mängel abzustellen, sieht Birk Politik, Gesellschaft und Ärzteschaft gefragt. Er hält Vergütungsanreize für Hausärzte und einen Leitfaden für das Gespräch mit adipösen Patienten für hilfreich.
Eine veränderte Einstellung gegenüber adipösen Patienten und ihren Ärzten hält auch Professor Arne Dietrich aus Leipzig für erforderlich. "Auch wir als Behandler werden diskriminiert", sagte Dietrich in Norderstedt.
Das Geld für einen chirurgischen Eingriff – durchschnittlich kostet die Operation rund 5000 Euro – sähen auch viele Ärzte in anderen Bereichen besser angelegt.
Derzeit werden solche bariatrischen Operationen in Deutschland rund 10.000 Mal im Jahr vorgenommen – im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit, bezogen auf die Einwohnerzahl, weit hinter den meisten Nachbarländern.
Rechtliche Risiken für Kliniken
Oft lehnen die Medizinischen Dienste der Krankenkassen die Kostenübernahme für bariatrische Operationen ab. Birk bestätigte aber, dass immer mehr Krankenhäuser dennoch operieren und damit das Risiko eines Rechtsstreits eingehen, weil sie den Patienten im Recht sehen.
Der einseitige Fokus von Politik und Krankenkassen auf Prävention ist aus Sicht der Experten keine Hilfe für die Betroffenen. Denn selbst wenn Prävention wirkt und künftig keine Menschen mehr adipös werden, gab Dr. Dirk Ghadamgahi von Johnson & Johnson zu bedenken, bleiben die aktuell Betroffenen: "Für die Versorgung dieser Menschen brauchen wir Konzepte."
Der bloße Verweis auf die Kosten der Operationen ist nach seiner Ansicht zu kurz gegriffen: "Die Eingriffe kosten nicht nur Geld, sondern sparen auch an anderer Stelle."
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