Deutscher Schmerz- und Palliativtag
Fibromyalgie – Diagnose mit Stolpersteinen
Fibromyalgie ist kein Weichteilrheuma! Vielmehr ist die Schmerzverarbeitung zentral gestört. Dort setzt heute die Therapie an, berichteten Experten beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag.
Veröffentlicht:Leipzig. Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) wird zunehmend als zentrale Schmerzverarbeitungsstörung aufgefasst. Wahrscheinlich liegt eine Hyperirritabilität des zentralen, unter Umständen zusätzlich auch des peripheren Nervensystems vor. Dies widerspricht früheren Annahmen, wonach das FMS dem rheumatischen Formenkreis zugeordnet wurde. Richtig ist bis heute: Ein morphologisch fassbares „Substrat“ dieser Erkrankung lässt sich nicht finden.
2-4% der Bevölkerung in westlichen Industrienationen sind Schätzungen zufolge von Fibromyalgie betroffen. Charakteristisch sind ausgebreitete, chronische Schmerzen (über mindestens drei Monate) in vielen Körperregionen, die die Patienten ins Muskel- Sehnensystem verorten, begleitet von Fatigue.
Angesichts der spärlichen objektiven Befunde falle es vielen Ärzten noch schwer zu akzeptieren, dass die Patienten erheblich subjektiv beeinträchtigt seien, erklärte Dr. Oliver Emrich aus Ludwigshafen beim Deutschen Schmerz- und Palliativtag 2020 der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). Nach aktuellen Schätzungen sind in westlichen Industrienationen zwei bis vier Prozent der Bevölkerung betroffen.
Charakteristische Schmerzen
Charakteristisch sind ausgebreitete, chronische Schmerzen (über mindestens drei Monate) in vielen Körperregionen, die die Patienten ins Muskel-Sehnensystem verorten, begleitet von Fatigue – einer „Müdigkeit, die nicht ausschlafbar ist“, so DGS-Präsident Dr. Johannes Horlemann. Die Schlafarchitektur sei zerstört, begleitet von psychischer Erschöpfung.
Hinzu kommen individuell variable Begleitsymptome wie etwa eine vermehrte Empfindlichkeit gegen Licht, Lärm, Kälte und Gerüche, Kopfschmerzen oder auch Kribbeln und Taubheitsgefühl. Psychosomatische Beschwerden sind innere Unruhe, Antriebslosigkeit, Herzrasen oder eine depressive Verstimmung.
International sind in den vergangenen Jahren eine Reihe von Leitlinien zur Diagnostik und Therapie erschienen, die sich inhaltlich zum Teil deutlich unterscheiden. Dies ist der limitierten Datenlage geschuldet. So zeichne sich die AWMF-Leitlinie in Deutschland durch streng negative Empfehlungen aus, weil keine randomisiert-kontrollierten Studien vorlägen, erklärte Emrich. „So kann man keine Therapie gestalten.“ Die DGS hat daher 2017 selbst eine Praxisleitlinie zum FMS veröffentlicht.
Auch Medikamente lösen FMS aus
Erste Herausforderung ist eine angemessene Differenzialdiagnostik. Diese beinhaltet in erster Linie den Ausschluss von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises sowie den Ausschluss endokrinologischer Krankheiten. Allerdings können auch Medikamente FMS-artige Beschwerden auslösen.
Als häufige Beispiele nannte Horlemann die Dauertherapie mit Metoclopramid, mit Analgetika, vor allem nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) sowie Antiepileptika. „Durch regelmäßige Fehlbehandlung des FMS im Alter wird die Symptomatik verstärkt oder einige Symptome erst hervorgerufen“, so der Schmerztherapeut aus Kevelaer.
Die früher empfohlene Diagnostik über Tenderpoints ist heute verlassen worden. Herangezogen werden die ACR (American College of Rheumatology)-Kriterien für FMS. Mit zwei Scores lassen sich Patienten mit Verdacht auf FMS testen: Mit dem Widespread Pain Index (WPI: Anzahl der Körperregionen mit Schmerzen) sowie mit der Symptom Severity Scale (SSS), mit der die Schwere der drei Symptome Müdigkeit, Schlafstörung sowie Merk- und Konzentrationsstörung erfasst wird. Überschreitet die Kombination bestimmter Punktezahlen beider Scores eine Schwelle, ist die Diagnose FMS bei fehlenden anderen Ursachen sehr wahrscheinlich.
Keine beschwerdefreien Zeitabschnitte mehr
Verläuft das FMS in jungen Jahren schubförmig mit teils langen beschwerdefreien Intervallen, gibt es ab dem 45. bis 50. Lebensjahr keine beschwerdefreien Zeitabschnitte mehr. Auch sei mit zunehmendem Alter keine Besserung zu beobachten, sagte Horlemann. Im Vordergrund der Behandlung steht zunächst die Aufklärung und Schulung der Patienten über ihre Krankheit, am besten gemeinsam mit Ehepartnern oder Kindern. Es gilt, Bewältigungsstrategien für den Umgang mit den individuell unterschiedlichen Symptomen zu entwickeln.
Das zeitweise Führen eines Symptomtagebuchs kann sinnvoll sein. Nichtmedikamentöse Optionen sind etwa Entspannungsverfahren bei angstbetonten Patienten, Wärme- oder Kälteanwendungen, kognitive Verhaltungstherapie sowie leichtes aerobes Körpertraining.
Medikamente sind angezeigt zur Schmerzlinderung und um den gestörten Schlaf sowie die depressive Symptomatik zu bessern. Sedativa sollten sehr zurückhaltend eingesetzt werden, warnen die Schmerztherapeuten der DGS.
Schmerzmediziner Emrich verwies auf die Medikationsempfehlungen der IASP (International Association for the Study of Pain), wonach Amitriptylin, Duloxetin, Milnacipran, Pregabalin und Gabapentin die vergleichsweise beste Evidenz aufweisen. Empfehlungen bestehen darüber hinaus auch für SSRI und SNRI.