Experten-Kommentar
Krankhafte Hypoglykämien gibt es auch bei Menschen ohne Diabetes
Eine Unterzuckerung mit Zittrigkeit, Herzklopfen, Heißhunger und Schweißausbrüchen hat praktisch jeder schon einmal erlebt. Auslöser können Fasten, körperliche Anstrengungen oder auch Kaffee oder Alkohol sein. Äthanol hemmt ja die Glukoneogenese in der Leber, die zu etwa 80 Prozent für die Zuckerneubildung verantwortlich ist. Solche Hypoglykämien sind in der Regel nicht gefährlich und verschwinden sofort nach Zufuhr von Kohlenhydraten. Der Organismus kann aber auch Jahre im Hungerzustand ohne Hypoglykämien überbrücken und zur Kompensation ersatzweise durch Lipolyse freie Fettsäuren und Ketonkörper (leider auch wichtige Proteine) sowie den Kohlenhydratanteil der Neutralfette (Glyzerin) heranziehen.
Es gibt aber auch bei Nicht-Diabetikern krankhafte Hypoglykämien. Dazu gehöre Stoffwechselleiden wie Zuckerresorptionsstörungen, Fruktose- und Galaktose-Intoleranz sowie verschiedene Glykogenspeicherkrankheiten wie die Glykogenosen vom Typ-1 (von Gierke) und Typ-3 (Cori). Hier steht die normalerweise über die Glykogenolyse freigesetzte Glukose im Mittelpunkt. Die Freisetzung von Glukose ist hier eingeschränkt. Die Folge sind Hypoglykämien, die durch Kohlenhydratzufuhr meist kompensiert werden können.
Hypoglykämien können aber auch durch einen Tumor in den Betazellen des Pankreas verursacht werden. Der Verdacht auf ein solches Insulinom lässt sich mit der sogenannten Whipple-Trias erhärten. Kriterien dafür sind Unterzuckerungen nach Fasten, niedrige Blutzuckerwerte und die prompte Besserung der Symptome nach Kohlenhydratzufuhr.
Insulinome sind mit einem Fall pro eine Million Einwohnern sehr selten. Jedes zehnte Insulinom ist als Inselzellkarzinom maligne und neigt relativ früh zu ausgeprägter Metastasierung, vor allem in der Leber. Oft wird die Krankheit leider erst nach Metastasenbildung diagnostiziert. Der Tumor ist histologisch nur schwer von einem gutartigen Insulinom abzugrenzen. Besonders im Zusammenhang mit anderen endokrinen Erkrankungen (wie Neoplasien an Hypophyse oder Nebenschilddrüse) lässt sich die Diagnose erhärten. Auch sogenannte Suppressionstests und Clamp-Untersuchungen können in seltenen Fällen weiter zur Diagnose beitragen, ebenso ein endoskopischer Ultraschall.
Bei der Diagnose eines Insulinoms sind Diabetologe, Radiologe und Nuklearmediziner gefragt. Wichtig ist natürlich auch der Chirurg, dem sich der gut- oder bösartige Tumor mitunter beim Palpieren oder optisch und dann histologisch offenbaren kann. Zur Diagnostik ist nach wie vor der Hungerversuch wichtig. Dabei sollen ab Beginn des Nahrungsentzugs alle vier Stunden die Blutzuckerwerte gemessen werden (bei einer schweren Hypoglykämie ist der Test umgehend abzubrechen). Zum Nachweis dienen zudem stets die Insulinwerte sowie unter Umständen Proinsulin und C-Peptid. Auch das Glukose-Insulin-Verhältnis kann weitere Auskünfte geben. Ein oraler Glukosetoleranztest fällt interessanterweise meist pathologisch im Sinne eines Diabetes oder Prädiabetes aus. Die hohen Insulinspiegel supprimieren offenbar die Funktion der "normalen" Betazellen.
Chirurgisch gilt es, die oft sehr kleinen Neoplasien sowie das Tumorgewebe vollständig zu entfernen. Hierzu ist eine Teilresektion am Pankreaskopf oder Pankreasschwanz (mit den meisten Inselzellen) oder sogar eine komplette Pankreatektomie nötig. Eine (zusätzliche?) Chemotherapie kommt wohl nur bei metastasierenden Tumoren in Betracht.
Um Aufmerksamkeit zu erregen, täuschen manche Patienten aber auch nur ein Insulinom vor, indem sie Sulfonylharnstoffe oder Insulin aufnehmen. An einem solchen Münchhausen-Syndrom leiden vor allem Menschen aus Heil- und Pflegeberufen, die sich damit auskennen. Sie brauchen unbedingt eine Psychotherapie.