"Ärzte ohne Grenzen"
Kritik an "globaler Allianz der Untätigkeit" bei Ebola
Über ein Jahr nach Bekanntgabe des Ebola-Ausbruchs in Westafrika übt die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" harsche Kritik am internationalen Krisenmanagement und warnt davor, die Epidemie vorschnell für beendet zu erklären.
Veröffentlicht:MONROVIA. Die Ebola-Epidemie hat schonungslos offengelegt, wie ineffizient und langsam die internationalen Gesundheits- und Hilfssysteme auf Notfälle reagieren."
Diese kritische Zwischenbilanz zieht Joanne Liu, die internationale Präsidentin von "Ärzte ohne Grenzen" (Médecins Sans Frontières, MSF), nach gut einem Jahr internationaler Hilfe in Westafrika wegen des Ebola-Ausbruchs.
Die Organisation warnt davor, den Ausbruch in Westafrika jetzt vorschnell für beendet zu erklären. Die Zahl der Neuinfektionen sei zuletzt wieder gestiegen, berichtet MSF in einer Mitteilung.
MSF hat viele Mitarbeiter zu ihren Ebola-Einsätzen befragt und daraus den Bericht "Pushed to the limit and beyond" zusammengestellt. Darin wird auch über die Abfolge der Ereignisse berichtet.
Bereits im März 2014 hatte MSF danach vor einem Ausbruch von beispielloser Verbreitung gewarnt. Die Regierungen der betroffenen Länder hätten den Ausbruch aber zunächst geleugnet.
Wegen der monatelangen "globalen Koalition der Untätigkeit" lokaler und internationaler Gesundheits- und Hilfssysteme habe sich das Virus unkontrolliert verbreiten können, so MSF in der Mitteilung.
Schließlich wurden zivile und militärische medizinische Teams zur Bekämpfung biologischer Gefahren nach Westafrika entsandt.
Versagen zahlreicher Institutionen
"Der Ebola-Ausbruch wurde oft als ‚perfekter Sturm' bezeichnet: eine grenzüberschreitende Epidemie in Ländern mit schwachen Gesundheitssystemen, in denen Ebola bislang unbekannt war", wird Christopher Stokes, MSF-Geschäftsführer in Belgien in der Mitteilung zitiert. In seinem Land werden die Ebola-Projekte der Organisation koordiniert.
Stokes kritisiert die verbreitete Erklärung für das Ausmaß des Ausbruchs. "Dass die Epidemie dermaßen außer Kontrolle geraten konnte, liegt am Versagen zahlreicher Institutionen. Dieses vermeidbare Versagen hatte schlimme Konsequenzen."
Angesichts der Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft habe MSF dann eine Ebola-Intervention nie gekannten Ausmaßes realisiert, so die Organisation. Dennoch war im August das MSF-Behandlungszentrum in Liberias Hauptstadt Monrovia völlig überfüllt.
Die Mitarbeiter mussten Schwerkranke abweisen, im Bewusstsein, dass diese vermutlich nach Hause gehen und andere anstecken würden. Nach Angaben von MSF waren 2014 mehr als 1300 internationale und 4000 nationale MSF-Mitarbeiter in Westafrika tätig und haben dort fast 5000 Ebola-Patienten versorgt. Mehr als 2300 dieser Patienten haben überlebt.
Die MSF-Mitarbeiter berichten auch über die schwierigen Entscheidungen, die angesichts mangelnder Ressourcen und fehlender Behandlungsmöglichkeiten zu treffen waren. Auch die Organisation selbst hätte frühzeitig mehr Ressourcen mobilisieren sollen, so die Selbstkritik. Notgedrungen konzentrierten sich die Teams auf Schadensbegrenzung.
Im Spannungsfeld zwischen Patientenversorgung, Überwachung der Epidemie, Organisation sicherer Beerdigungen und Präsenz in der Fläche mussten Prioritäten gesetzt werden.
"In den schlimmsten Phasen des Ausbruchs konnten die Teams einfach nicht mehr Patienten aufnehmen und die bestmögliche Patientenversorgung nicht gewährleisten", sagt Liu. "Das hat zu erhitzten Debatten und Spannungen innerhalb der Organisation geführt."
Immer noch über 100 Neuinfektionen pro Woche
Ein Ende der Epidemie ist noch nicht in Sicht: Noch immer gebe es jede Woche mehr als 100 Neuinfektionen, so MSF. Die Zahl der Neuinfektionen pro Woche sei damit noch immer höher als in jedem Ausbruch zuvor, und sie ist seit Ende Januar nicht mehr gesunken.
In Guinea steigt die Zahl der Patienten sogar an. Noch immer gibt es Misstrauen und Widerstand gegen die Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen und Hilfsorganisationen. In Sierra Leone bestehen weiterhin aktive Ansteckungsherde im Westen des Landes.
Viele der neuen Patienten stehen auf keiner der Listen bekannter Kontaktpersonen - niemand weiß, wo sie sich angesteckt haben. In Liberias Hauptstadt Monrovia wurde am 20. März erneut ein bestätigter Ebola-Fall gemeldet, nachdem das Land zuvor zwei Wochen lang Ebola-frei gewesen war.
In den drei am stärksten betroffenen Ländern haben 2014 fast 500 Gesundheitsmitarbeiter ihr Leben verloren.
Dies ist umso verheerender, als diese Staaten bereits vor der Ebola-Krise unter einem gravierenden Personalmangel im Gesundheitssektor litten. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung müsse dringend wiederhergestellt werden.
Entscheidend für die Zukunft ist die Entwicklung einer globalen Strategie zur Entwicklung von Impfstoffen, Diagnostika und Medikamenten gegen Ebola.
"Diese Epidemie hat brutal ein kollektives Scheitern aufgezeigt, für das Tausende Menschen mit dem Leben bezahlt haben. Die Mängel reichen von den schwachen Gesundheitssystemen in den betroffenen Ländern bis zur Lähmung der Hilfe von internationaler Seite", ist das Fazit von MSF.