Übergewicht

Länger leben mit Fettpölsterchen

Einem langen Leben scheinen ein paar Kilo zu viel nicht abträglich zu sein. Ein US-Studie kommt jetzt sogar zu dem Ergebnis: Das genaue Gegenteil ist der Fall.

Von Beate Schumacher Veröffentlicht:
Zusätzliches Fettgewebe kann Energiereserven liefern, die bei akuten katabolen Erkrankungen gebraucht werden.

Zusätzliches Fettgewebe kann Energiereserven liefern, die bei akuten katabolen Erkrankungen gebraucht werden.

© imagebroker / imago

HYATTSVILLE. Nicht nur bei Menschen mit chronischen Erkrankungen, auch in der Allgemeinbevölkerung stellt Übergewicht einen Überlebensvorteil dar.

Selbst bei einer Adipositas vom Grad 1 (BMI 30 bis 34,9 kg/m2) ist noch kein Verlust an Lebenszeit zu erwarten. Erst ab einer Adipositas vom Grad 2 (BMI ab 35 kg/m2) ist die Mortalität gegenüber Normalgewichtigen erhöht.

Das hat die bisher umfassendste Metaanalyse zum Thema ergeben (JAMA 2013; 309: 71). Dr. Katherine Flegal von den Centers for Disease Control and Prevention in Hyattsville (Maryland) und Kollegen haben dazu 97 prospektive Studien, vornehmlich aus den USA und Europa, mit mehr als 2,88 Millionen Menschen und über 270.000 Todesfällen ausgewertet.

Bei übergewichtigen Menschen war die Mortalität in den Studien um 6 Prozent niedriger als bei Patienten mit Normalgewicht (BMI von 18,5 bis 24,9 kg/m2).

Adipöse Menschen hatten zwar insgesamt eine um 18 Prozent höhere Sterberate, doch das erhöhte Risiko beschränkte sich auf Personen mit Adipositas vom Grad 2 und 3, mit einer um 29 Prozent höheren Mortalität.

Bei einer Adipositas vom Grad 1 war der Unterschied nicht signifikant. Auch wenn Alter, Raucherstatus und Art der BMI-Bestimmung - eigene Angabe oder Messung - berücksichtigt wurden, änderte dies praktisch nichts am Zusammenhang von Übergewicht und Adipositas mit der Lebenserwartung.

BMI taugt nur bedingt als Marker

Ähnliche Ergebnisse waren bereits in zwei älteren Metaanalysen zutage getreten. In beiden war die Mortalität nur bei adipösen, nicht aber bei übergewichtigen Menschen erhöht.

Für die jetzt festgestellte protektive Wirkung von Übergewicht gibt es mehrere Erklärungsansätze: Dicke Menschen werden im Krankheitsfall früher bei einem Arzt vorstellig, sie haben größere Chancen auf eine optimale Therapie, und/oder der höhere Körperfettanteil hat kardioprotektive Effekte bzw. dient als metabolische Reserve.

Ein Kommentar gibt zu bedenken, dass der BMI nur bedingt als Risikomarker tauge, weil in derselben BMI-Klasse Personen mit sehr unterschiedlicher Muskelmasse und Fettverteilung zusammengefasst werden.

Trotzdem konstatieren sie, dass "Übergewicht und geringgradige Adipositas bei chronischen Erkrankungen wie KHK und Diabetes sowie in höherem Alter offenbar schützend wirken".

Und selbst wenn keine chronische Erkrankung bestehe, könne zusätzliches Fettgewebe "Energiereserven liefern, die bei akuten katabolen Erkrankungen gebraucht werden, bei traumatischen Verletzungen nützliche mechanische Effekte haben oder andere, noch zu untersuchende gesundheitsförderliche Wirkungen ausüben".

Für die Praxis bedeute das, dass "wahrscheinlich nicht bei allen Patienten mit Übergewicht oder Grad-1-Adipositas, insbesondere nicht bei chronisch Kranken, eine Gewichtsreduktion notwendig ist".

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Übergewicht neu bewertet?

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Kommentare
PD Dr. Uwe Berger 22.01.201312:48 Uhr

Tendenziöse Berichterstattung zum Thema Übergewicht

Sehr geehrtes Redaktionsteam der Ärztezeitung,
Ihre Berichterstattung zum Thema Übergewicht und Adipositas ist für mein Dafürhalten mittlerweile tendenziös und bezüglich der intendierten Botschaften populistisch. Die Tatsache, dass Übergewicht (im Sinne der WHO-Definition BMI zwischen 25 und 30) nicht gesundheitsschädlich ist, ist nicht neu (siehe z. B. die bislang meines Wissens nach größte Einzelstudie zum Thema von Wei Zheng et al., 2011, N Engl J Med, an der über eine Million Asiaten teilnahmen), wird aber häufig – auch in der Ärztezeitung – verkürzt interpretiert. So wird selten zwischen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko unterschieden. Auch die neueren Studien wie die zitierte JAMA-Metaanalyse ändern nichts daran: das Krankheitsrisiko steigt sukzessive ca. ab BMI 30 (Adipositas Grad I), das Sterblichkeitsrisiko ca. ab BMI 35 (Adipositas Grad II). Der Überlebensvorteil bei bereits bestehender KHK auch bei starkem Übergewicht bedeutet nicht, dass Adipositas vor KHK schützt. Im Gegenteil: das Risiko für KHK ist höher, aber wenn die KHK da ist, dann kann Abnehmen kontraindiziert sein (das ist das einzig Neue an den neueren Studien!). Sie weisen zurecht darauf hin, dass der BMI nicht der einzige und auch nicht der beste Indikator für riskantes Übergewicht ist, aber Sie unterschlagen in Ihrer Berichterstattung mindestens drei nach wie vor gültige Sachverhalte: 1. Um gesund zu bleiben und erst gar nicht krank zu werden, ist es gut, Adipositas (ebenso wie Untergewicht) zu vermeiden; 2. Die Krankheitslast durch Adipositas bringt eine starke Einschränkung der Lebensqualität und hohe Kosten im Gesundheitssystem mit sich, auch wenn die Behandlungsmöglichkeiten insbesondere der Folgeerkrankungen besser werden und damit das Mortalitätsrisiko sinkt; 3. Starkes Übergewicht und Adipositas verlaufen häufig progredient, so nimmt ein Erwachsener durchschnittlich 20 Kilo im Laufe seines Lebens zu, d. h. wer in jungen Jahren bereits eine Adipositas 1. Grades aufweist, wird sehr wahrscheinlich in seiner Lebensmitte beim II. oder III. Grad angekommen sein. Vor allem aus 3. folgt: Übergewicht als Schutzfaktor zu propagieren ist medizinisch betrachtet eine dumme Idee. Die Frau auf Ihrem Bild hat mit Sicherheit nicht nur „ein paar Kilo zu viel“. Sie ist jung und wenn Sie jetzt noch gesund ist, dann muss Sie sich viel bewegen und ihre Kalorienzufuhr an ihren Verbrauch anpassen – sonst wird ihr Gewicht kontinuierlich in genau die Regionen steigen, die nicht nur mit einer vermutlich jetzt bereits vorhandenen Einschränkung der Lebensqualität sondern auch mit einem sehr deutlich erhöhten Sterblichkeitsrisiko einhergehen. An der Richtigkeit dieser ärztlichen Empfehlung ändert die zitierte JAMA-Studie nichts. Recht geben würde ich Ihnen im Bemühen, aus einer solchen Empfehlung keine Hetze gegen „dickere“ Menschen zu machen, denn Adipositas ist ein gesamt-gesellschaftliches Problem, mitverursacht durch geringere Bildungschancen, relative Armut, mangelnde soziale Teilhabe, Tricks der Nahrungsmittelindustrie …
Beste Grüße,
PD Dr. Uwe Berger, Universitätsklinikum Jena.

Hans Gerd Spaether 22.01.201311:52 Uhr

"Mega-Meta" wird nicht besser

sehr geehrter Herr Kollege Schätzler
Stimme Ihrem Artikel absolut zu.
Besonders wichtig ist Ihr letzter Absatz
mit freunlichen Grüßen
Hans Gerd Spaether

Dr. Thomas Georg Schätzler 22.01.201311:24 Uhr

"Mega-Meta" wird nicht besser!

Diese Mega-Meta-Analyse mit 2,88 Millionen Teilnehmern leidet an unzureichender Hypothesenbildung und mangelhafter Reflexion möglicher "Bias" (Fehlannahmen). Denn dynamische, krankheitsbedingte und -immanente Gewichtsveränderungen wurden nicht berücksichtigt. Wenn eine Adipositas vom Grad 1 (BMI 30 bis 34,9 kg/m2) mit bis zu 113 kg Gewicht bei 180 cm Körpergröße einen statistisch signifikanten Vorteil gegenüber Normalgewichtigkeit bietet, weiß ich nicht, was dann noch die Messung des Bauchumfangs als eigenständiger Risikofaktor bringen soll.

In der Ergebnisdiskussion werden konsumierende Erkrankungen wie COPD, Herzinsuffizienz, Tumorleiden, aber auch präfinale Zustände aller Altersstufen mit ihren fortgeschrittenen Stadien und einem katabolen Stoffwechsels nicht berücksichtigt. Dies kann zu einer statistisch verzerrenden E r h ö h u n g der Mortalität in der Population der noch normgewichtigen Patienten gegenüber den Übergewichtigen mit ihrem anabolen Stoffwechsel führen.

Der in dieser US-Studie verwendete "cut-off" eines BMI von größer oder gleich 18,5 entspricht bei einer Größe von 180 cm nur noch 59 kg Körpergewicht. Dies ist beim üblichen Ernährungsverhalten in den USA eher ein Indiz für krankheitsbedingtes Untergewicht mit möglicher Kachexie-Entwicklung und erhöhtem Mortalitätsrisiko. Und wer garantiert eigentlich Patientinnen und Patienten, dass sie auf immer und ewig im für sie mortalitätsgünstigeren Adipositas Grad I verharren werden. Eher ist wahrscheinlich, dass die Grenze zum mortalitäts- (und morbiditäts-) steigernden BMI > 35 überschritten wird.

"Schlank gleich gesund" gilt für Gesunde, nicht für kranke Schlanke. Und auch nach dieser gewaltigen Meta-Analyse bleiben Übergewichtige und Adipöse nur dann länger am Leben, wenn sie nicht krank werden.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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