Apotheker vor Gericht

Prozess um gepanschte Zytostatika beginnt

Ein Apotheker aus Bottrop soll Zytostatika in großem Maßstab gestreckt haben. Nun kommt er vor Gericht. Vor Prozessbeginn am 13. November hüllt er sich in Schweigen. Ärzten wird derweil vorgeworfen, Patienten nicht ausreichend informiert zu haben.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Zytostatika-Zubereitungen im Visier: Der Skandal in Bottrop hat viele Ärzte und Patienten im Land beunruhigt.

Zytostatika-Zubereitungen im Visier: Der Skandal in Bottrop hat viele Ärzte und Patienten im Land beunruhigt.

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Das Ausmaß der mutmaßlichen Machenschaften macht sprachlos: In mindestens 61.980 Fällen soll ein Apotheker aus Bottrop Krebsmedikamente gepanscht haben. Bis heute ist nicht klar, welchen gesundheitlichen Schaden er damit bei den betroffenen Patienten womöglich angerichtet hat. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, zeugen sie von einer erheblichen kriminellen Energie. Der Prozess gegen den Mann beginnt am 13. November vor dem Landgericht Essen. Die mögliche Höchststrafe für Verstöße gegen das Arzneimittelgesetz, Betrug und Körperverletzung beträgt 15 Jahre.

Der Apotheker schweigt und hat bislang nichts dazu beigetragen, die Zusammenhänge aufzuklären. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft erstrecken sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 2012 bis zum 29. November 2016, dem Tag der Verhaftung des Apothekers. Er soll Zubereitungen für Chemotherapien mit deutlich weniger Wirkstoff als ärztlich verordnet in den Verkehr gebracht haben. 49 Wirkstoffe sind offenbar von der Unterdosierung betroffen. Gleichzeitig soll er gegen Hygiene- und Dokumentationsvorschriften verstoßen haben.

Bei 50.435 Rezepturen, die der Apotheker zulasten der gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet hat, geht die Staatsanwaltschaft von gewerbsmäßigem Betrug aus. Denn er hat immer die volle Wirkstoffmenge in Rechnung gestellt. Der geschätzte wirtschaftliche Schaden beläuft sich auf 56 Millionen Euro.

Zwölf Nebenkläger

Rund 120 Patienten oder Angehörige von Patienten haben gegen den Apotheker Strafanzeige wegen Körperverletzung oder Tötungsdelikten erstattet. Zwölf von ihnen sind in dem Prozess als Nebenkläger zugelassen. Das Recherchezentrum Correctiv hat die Vorgänge akribisch aufbereitet. Wenn auch nur ein Teil der von den Journalisten veröffentlichten Berichte zutrifft, wäre das schon haarsträubend: Der Apotheker soll in Straßenkleidung in den Reinraum gegangen sein, um Infusionen zuzubereiten, und zum Teil sogar seinen Hund mitgenommen haben. Er habe demnach nachts und am Wochenende Chemotherapien hergestellt und das vorgeschriebene Vier-Augen-Prinzip gebrochen. Ans Licht gebracht haben die Vorgänge zwei Mitarbeiter, die ihren Chef angezeigt haben.

Quälende Ungewissheit

Dass sich der Mann nicht zu den Vorwürfen äußert, erschwert nicht nur die Arbeit der Ermittler, sondern lässt vor allem die Patienten in quälender Ungewissheit. Viele wissen nicht, ob und wie sie von Manipulationen betroffen sind. Bei einer vom Gesundheitsamt Bottrop eingerichteten speziellen Hotline haben sich 1200 Patienten gemeldet.

Nachweisen kann man dem Apotheker die Manipulationen bei 27 Präparaten, die bei der Durchsuchung der Apotheke beschlagnahmt wurden. "Diese 27 ausweislich der Etikettierung von dem Angeschuldigten eigenhändig hergestellten Proben wiesen erhebliche Mindermengen an den verschriebenen Wirkstoffen auf", teilte Oberstaatsanwältin Anette Milk mit.

Nach ihren Angaben sind 36 Arztpraxen und Kliniken mit den gestreckten Zytostatika beliefert worden. Den behandelnden Ärzten ist wiederholt vorgeworfen worden, die betroffenen Patienten nicht angemessen zu informieren.

Diese Kritik ist ungerechtfertigt, betont Professor Stephan Schmitz, Vorsitzender des Berufsverbands der Niedergelassenen Hämatologen und Onkologen. Die Ärzte wüssten nicht, welche Patienten betroffen sind. Die Staatsanwaltschaft sei Herr des Verfahrens, betont Schmitz. "Wenn sie belastbare Informationen hat, welche Patienten möglicherweise zu Schaden gekommen sind, hätte sie den Ärzten diese Informationen geben müssen."

Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hat als Konsequenz aus dem Skandal die Überwachung der Apotheken verschärft, unter anderem durch schärfere Regelungen für die amtliche Probenentnahme und die Untersuchung der Proben. "Erste amtliche Probenzüge sind bereits vor Ort erfolgt", sagte Laumann nach Gesprächen mit Vertretern von Behörden und verschiedener Verbände und Institutionen aus Apotheker- und Ärzteschaft. Als weiterer Schritt folgen klare Vorgaben zum Inspektionsumfang und den Inspektionsschwerpunkten, kündigte er an. Und: "Ich werde dafür sorgen, dass die Ergebnisse der Probenuntersuchungen und der Inspektionen in geeigneter Weise einmal jährlich im Internet veröffentlicht werden." Vertrauen könne nur durch Transparenz entstehen.

Man müsse den Abschluss des Gerichtsverfahrens natürlich abwarten, betonte Laumann. Klar sei aber auch: "Es steht der Verdacht eines ungeheuerlichen Verbrechens im Raum."

Beratung über Konsequenzen

"Wir können nach diesem Fall nicht zur Tagesordnung übergehen", stellt der Sprecher der Apothekerkammer Westfalen-Lippe Michael Schmitz klar. Die Kammer hat mit allen Zytostatika herstellenden Apotheken in Westfalen-Lippe über Konsequenzen beraten. Vorstellbar sei, die Kontrollen in der Hand weniger Amtsapotheker zu bündeln, berichtet Schmitz. Zudem seien unangekündigte Besuche sinnvoll. Nach seinen Angaben sucht die Apothekerkammer bei diesem Thema den Schulterschluss mit der Ärztekammer. "Wir wollen eng zusammenarbeiten."

Leider gebe es keine Kontrollmechanismen, die kriminelles Verhalten verhindern können, sagt Dr. Rötger von Dellingshausen, Geschäftsführer des Verbands der Zytostatika herstellenden Apothekerinnen und Apotheker. "Die unbegreifliche Dimension dieses Falles geht über jedes normale menschliche Vorstellungsvermögen hinaus und durchbricht die Grenzen von Recht und Moral in die Tiefen menschlicher Abgründe", sagt er.

Pro Jahr gibt es rund drei Millionen Zytostatika-Zubereitungen. In Paragraf 35 der Apothekenbetriebsordnung sind die organisatorischen und pharmazeutischen Anforderungen und Maßnahmen für die Herstellung sowie die Inhalte des Qualitätsmanagements festgelegt, erläutert von Dellingshausen. Danach muss die Herstellung unter anderem nach dem Vier-Augen-Prinzip erfolgen. "Im Herstellungsprotokoll sind die Charge und die verwendete Menge der verwendeten Substanz festzuhalten, so dass sich für jeden Patienten nachverfolgen lässt, was für ihn verwendet worden ist – es sei denn, diese Bestimmungen werden in betrügerischer Absicht außer Acht gelassen."

Zytostatika-Skandal in Zahlen

  • In 61.980 Fällen soll ein Apotheker aus Bottrop Krebsmedikamente gepanscht haben.
  • 36 Arztpraxen und Kliniken sollen mit den gestreckten Zytostatika beliefert worden sein.
  • Ab dem 13. November muss sich der Apotheker den Vorwürfen vor Gericht stellen.
  • 120 Patienten oder Angehörige von Patienten haben gegen den Apotheker Strafanzeige wegen Körperverletzung oder Tötungsdelikten erstattet.

Lesen Sie dazu auch: Konsequenzen aus dem Zyto-Skandal: Mehr Kontrollen für Apotheken?

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