Psychische Störungen
Sexualstraftäter sind meist erschreckend normal
Nur etwa drei Prozent der Sexualstraftäter landen im Maßregelvollzug. Bei den übrigen lassen sich die Delikte nicht primär durch eine psychische Störung erklären.
Veröffentlicht:Die meisten Sexualstraftäter sind nicht psychisch krank. Der psychisch gestörte Pädophile oder Vergewaltiger ist allen Vorurteilen zum Trotz eher die Ausnahme. Darauf haben Experten beim DGPPN-Kongress in Berlin hingewiesen.
"Eine Vergewaltigung hat viel mit einem Raub zu tun: Jemand nimmt sich einfach, was er haben will", sagte Professor HansLudwig Kröber vom Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin. Kröber erinnerte an die vielen Vergewaltigungen in Bürgerkriegen durch zuvor psychisch unauffällige Männer. Auch könnten sich nach einer US-Untersuchung etwa 30 Prozent der männlichen Studenten vorstellen, eine gewaltsame sexuelle Handlung zu begehen, wenn sie keine Strafe zu befürchten hätten.
Bei den meisten Sexualdelikten stehe daher keine psychische Störung im Vordergrund, oft handle es sich um Gelegenheitstäter oder dissoziale Persönlichkeiten, die sich auch in anderen Bereichen einfach nehmen, was sie wollen. Entsprechend würden 97 Prozent der Sexualstraftäter im normalen Strafvollzug untergebracht und nur drei Prozent im Maßregelvollzug.
Die allermeisten Täter sind voll schuldfähig
Doch selbst wenn eine psychische Störung vorliegt, bedeute dies noch lange nicht, dass der Täter als schuldunfähig gilt, erläuterte Professor Henning Saß von der Universität Aachen. Die Störung muss die Steuerungsfähigkeit massiv einschränken. Im Falle von Sexualdelikten bedeutet dies, dass der Täter seine Triebe krankheitsbedingt nicht kontrollieren kann, sagte der Psychiater. Bloße Willensschwäche oder Charaktermängel reichen nach einem Beschluss des Bundesgerichtshofs dafür nicht aus.
"Die Gesamtpersönlichkeit muss so deformiert sein, dass von einer fehlenden Hemmungsfähigkeit auszugehen ist", ergänzte Professor Nahlah Saimeh vom Zentrum für Forensische Psychiatrie in Lippstadt. Für eine Schuldunfähigkeit müssten sich auch Persönlichkeitsdefizite außerhalb des Sexuellen zeigen. "Solche Leute kriegen ganz vieles nicht auf die Reihe", sagte sie. Gutachter schauen sich folglich die gesamte Lebensführung an. Wer an anderer Stelle nicht auffalle, sei kaum so schwer gestört, dass er für seine Taten keine Verantwortung übernehmen könne.
Die Psychiaterin nannte als Beispiel einen erfolgreichen und verheirateten Versicherungsvertreter, der gezielt junge Krankenschwestern aufgesucht und Versicherungsgespräche für Vergewaltigungen ausgenutzt hatte. "So jemand kommt natürlich in den Strafvollzug."
Sehr heterogene Gruppe
Generell, so Saimeh, sind Sexualstraftäter eine sehr heterogene Gruppe. Unterschieden werden müsse zum einen zwischen Tätern mit einer sexuellen Präferenzstörung, etwa Pädophilen, sowie dissexuellen Tätern. Letztere hätten kein "gestörtes sexuelles Skript", sie würden vielmehr auf konventionelle Weise Lust empfinden, hier liege analog zur Dissozialität ein Normenversagen vor. Die Dissexuellen werden noch einmal in solche unterteilt, die tatsächlich dissozial sind und auch in anderen Bereichen durch Rücksichtslosigkeit glänzen, sowie solche, die vor allem eine Gelegenheit nutzen. Dazu zählt etwa der neue Liebhaber der Mutter, der sich auch für die pubertierende Tochter interessiert.
Bei Situationstätern sei wiederum zu prüfen, wie sehr sie die Situation aktiv aufsuchen und gestalten. Dies, so Saimeh, ist für die Prognose äußerst relevant. Je aktiver jemand die Situation erschafft, in der er das Sexualdelikt begeht, umso höher ist die Rückfallwahrscheinlichkeit.
Für die Schuldfähigkeit ist wiederum mitentscheidend, ob der Täter auch ein "normales" Sexualverhalten aufweist, also zwischen konventionellem und strafrechtlich relevantem Verhalten wechseln kann. Hat ein Pädophiler auch Spaß am Sex mit Erwachsenen, lässt sich kaum ein unkontrollierbarer Zwang zum Sex mit Kindern annehmen. Von einer Minderung der Schuldfähigkeit sei nur dann auszugehen, wenn die Präferenzstörung das gesamte sexuelle Leben und Erleben dominiert, und zwar so gravierend, dass auch andere Bereiche betroffen sind, erläuterte die Psychiaterin. So seien zwar die meisten Sexualstraftäter im Maßregelvollzug pädophil, aber die meisten pädophilen Täter würden im gewöhnlichen Strafvollzug untergebracht, weil eben nicht die strengen Kriterien für eine Schuldunfähigkeit vorliegen, ergänzte Kröber.
Entsprechend würden die meisten Sexualstraftäter nach zwei bis sieben Jahren aus dem Gefängnis entlassen – unabhängig von der Rückfallgefahr. Erst im Wiederholungsfall drohe die Sicherungsverwahrung.
Im Maßregelvollzug dauert die Unterbringung deutlich länger. Gemäß einer neuen Regelung muss nun jedoch nach sechs sowie zehn Jahren durch einen externen Gutachter geprüft werden, ob noch eine Wiederholungsgefahr besteht, erläuterte Kröber.
Die Rückfallrate bei Sexualdelikten liege generell bei etwa 20 Prozent. Am geringsten sei diese bei verurteilten Gelegenheitstätern. "Die haben anschließend genug für den Rest ihres Lebens." Mit höheren Raten müsse bei dissozialen Persönlichkeiten gerechnet werden, wenngleich diese als nächstes meist in anderen Bereichen straffällig würden. Hier könne ein prosoziales Training hilfreich sein. Dagegen komme eine Psychotherapie bei Pädophilen mit schlechter Triebkontrolle rasch an ihre Grenzen. Solche Personen könnten oft nur unter antiandrogener Therapie entlassen werden.