Abhängigkeit
Viele Vorurteile rund um die Alkoholsucht
Wir lieben den Alkohol, aber nicht den Alkoholiker. Wer zu viel trinkt, gilt als charakterschwach. Solche Vorbehalte erschweren die Versorgung: Eine Behandlung wird fälschlicherweise oft als überflüssig oder wirkungslos betrachtet.
Veröffentlicht:BERLIN. Unter Drogenkonsum verstehen die meisten Menschen noch immer den Genuss von Amphetamin, Heroin und Kokain. Das wahre Drama spielt sich jedoch beim übermäßigen Gebrauch von legalen Drogen wie Alkohol und Nikotin ab.
So sterben in Deutschland jährlich etwa 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauch und 110.000 an den Folgen des Rauchens, wie Professor Iris Hauth beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin betonte.
Ein besonderes Problem sieht die DGPPN-Präsidentin beim Alkoholkonsum: "Über 9,5 Millionen Menschen trinken in Deutschland Alkohol in gesundheitlich riskantem Ausmaß. Psychische Störungen und Verhaltensprobleme durch Alkohol liegen mit mehr als 330.000 Fällen an zweiter Stelle der Krankenhausdiagnosestatistik."
Jedoch erhalte in Deutschland nur jeder zehnt Alkoholabhängige eine spezifische Therapie. "Viele Therapieangebote kommen zu wenig bei den Betroffenen an. Oft bestehen erhebliche Unsicherheiten im Umgang mit Suchtpatienten, oder es fehlt an der nötigen Abstimmung zwischen Haus- und Fachärzten sowie der Suchthilfe."
Ein Grund dafür seien auch Fehleinschätzungen: "Eine Abhängigkeit wird mit einem ungesunden Lebensstil verwechselt." Zugleich würden Alkoholkranke immer noch stark diskriminiert, etwa bei der Suche nach Arbeit und Wohnung.
Die Folge: "Suchterkrankungen werden von den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld totgeschwiegen. Therapeutische Interventionen erfolgen daher oft erst in einem sehr späten Stadium der Abhängigkeit."
Alkohol steht für Macht und Erfolg
"Wir lieben den Alkohol, nicht den Alkoholiker" - dieses Fazit zieht Dr. Heribert Fleischmann, Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), aus einer Reihe von Befragungen.
So sei der Alkoholkonsum in der Bevölkerung positiv besetzt, Alkohol werde mit Macht und Erfolg assoziiert und dürfe daher auf keiner Siegesparty fehlen - weder in der Politik noch im Sport.
Abhängige Menschen würden dagegen abgelehnt: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist der Auffassung, dass man bei der Behandlung Alkoholkranker sparen kann. 37 Prozent der Grundsicherungsstellen der Arbeitsvermittlung sanktionieren Suchtkranke.
17 Prozent der Bevölkerung halten nach einer Repräsentativerhebung der DHS die Sucht für eine Charakterschwäche, 36 Prozent für eine selbst verschuldete Krankheit und 5 Prozent für nicht behandelbar. Nur ein Viertel akzeptiert ein medizinisch-biologisches Krankheitskonzept.
Ein Drittel der Bevölkerung lehnt einen Alkoholkranken als Nachbarn oder Arbeitskollegen ab, zwei Drittel wollen ihn nicht als Freund haben oder nicht an ihn vermieten, über 80 Prozent würden ihm nicht die Kinder zum Aufpassen anvertrauen.
Deutlich unterschätzt wird nach Fleischmanns Auffassung der Erfolg medizinischer Interventionen: So könnte 80 Prozent der Betroffenen ambulant und über 90 Prozent in stationärer Behandlung geholfen werden.
Konkret heiße dies, dass bis zu zwei Drittel der Betroffenen nach der Therapie abstinent lebten, mehr als 80 Prozent seien zwei Jahre nach der Entwöhnung wieder im Erwerbsleben integriert.
Gerade in der ambulanten Versorgung seien Hausärzte von großer Bedeutung, allerdings mangele es hier oft am nötigen Problembewusstsein sowie an der Zeit für Diagnostik und Behandlungsplanung.
Fleischmann betonte, dass nicht alle Suchtkranken eine medizinische Behandlung brauchten, oft genügten auch andere Interventionen, etwa ein Konsumtagebuch oder eine intensive Beratung, um den Alkoholkonsum zu senken, auch müsse nicht immer die Abstinenz das Ziel sein.
Gefangen in der Präferenzwahrnehmung
Am besten sind die Chancen, der Sucht zu entkommen, wenn diese noch nicht lange besteht.
"Dann können die Betroffenen noch kognitiv dagegen arbeiten", erläuterte Professor Falk Kiefer vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Sie sind dann noch in der Lage, den Konsum aus Furcht vor negativen Konsequenzen einzuschränken.
Der präfrontale Kortex behält aber nur bis zu einem gewissen Grad die Kontrolle über das Geschehen, irgendwann sind die Patienten unter dem Einfluss der Droge nicht mehr in der Lage, alternative Handlungsmotive wahrzunehmen und sich gegen Alkohol zu entscheiden. "Die Freiheit wird durch den Suchtmittelkonsum eingeschränkt."
Das auf Alkohol konditionierte Belohnungssystem im Gehirn filtert dann gnadenlos alle Informationen heraus, die nichts mit dem Alkoholkonsum zu tun haben. "Sie sehen in einer Einkaufsstraße vielleicht Schuhgeschäfte, ein Suchtkranker nur Kneipen", sagte Kiefer.
Die Patienten sind nun gefangen in ihrer Präferenzwahrnehmung und trinken weiter trotz der negativen körperlichen und sozialen Folgen. Spätestens dann müsse von einer alkoholinduzierten kognitiven Störung ausgegangen werden, die eine medizinische Behandlung erforderlich macht.
Dieser Prozess, so Kiefer, verläuft jedoch schleichend und ist nicht direkt von der Dosis abhängig. "Es gibt keinen Schalter zwischen normalem Konsum und Sucht."