Hintergrund

Zweifel an Tamiflu

Ärger für das Grippemittel Tamiflu: Eine Cochrane-Analyse deutet auf eine geringere Wirksamkeit als bisher angegeben. Die Forscher werfen dem Hersteller vor, nicht alle vorhandenen Studienergebnisse öffentlich zu machen. Auch Nebenwirkungen sollen "unter den Tisch gefallen" sein.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Hartkapseln in der Kritik: Die Cochrane-Gruppe hat Tamiflu unter die Lupe genommen.

Hartkapseln in der Kritik: Die Cochrane-Gruppe hat Tamiflu unter die Lupe genommen.

© Sabine Gudath / imago

Eine aktuelle Cochrane-Übersichtsarbeit wirft erneut kritische Fragen zum Grippemedikament Oseltamivir (Tamiflu®) auf.

In den zahlreichen nicht öffentlich zugänglichen Studien kommt der Neuraminidase-Hemmer offenbar schlechter weg als in den publizierten Studien.

So gehen die Grippesymptome in der Gesamtanalyse zwar früher zurück, aber die Patienten müssen nicht seltener stationär behandelt werden.

Den Cochrane-Autoren zufolge sind 60 Prozent der randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Studien, darunter auch die größte Studie mit 1400 Patienten, nie veröffentlicht worden.

Die Forscher haben deswegen mehrere 1000 Seiten mit nicht publizierten Studienberichten durchforstet und die Ergebnisse in einem neuen Review zusammengetragen (The Cochrane Library 2012, online 18. Januar).

Roche wollte Daten liefern

Bei den Studienberichten handelt es sich um die Unterlagen, die im Rahmen der Zulassungsverfahren in verschiedenen Ländern den zuständigen Behörden vorgelegt worden waren.

Den Cochrane-Wissenschaftlern wurden vom Hersteller Roche trotz wiederholter Anfragen keine weiteren Daten zur Verfügung gestellt. Ein Sprecher von Roche Pharma sagte der "Ärzte Zeitung", dass die Vorwürfe der Cochrane-Autoren bereits seit einigen Jahren erhoben würden.

Die Forscher hätten Zugang zu den Daten haben können, wenn sie eine vom Unternehmen geforderte Vereinbarung zur Vertraulichkeit unterschrieben hätten.

In der aktuellen Auswertung wird die symptomatische Wirksamkeit des Neuraminidase-Hemmers bestätigt. Die Zeit bis zur ersten Besserung der Symptome wurde gegenüber einer Placebotherapie signifikant um 21 Stunden verkürzt, von 160 auf 139 Stunden.

Daten nicht vergleichbar?

Auf die Zahl der Krankenhauseinweisungen hatte die Therapie jedoch keinen Einfluss. Fast ein Prozent der Studienteilnehmer wurde wegen einer Pneumonie oder anderen Komplikationen stationär aufgenommen, genauso viele wie unter Placebo.

Für weitere dem Neuraminidase-Hemmer zugesprochene Wirkungen fehlen beweisende Fakten: "Aussagen, dass Oseltamivir vor Komplikationen schützen und das Ansteckungsrisiko für andere Personen reduzieren kann, werden durch die uns zugänglichen Daten nicht gestützt", heißt es in dem Review.

Die Cochrane-Forscher äußern auch Zweifel, ob die in den Studien verglichenen Patientengruppen tatsächlich vergleichbar waren.

Niedrigere Antikörpertiter könnten anzeigen, dass in den Verumgruppen weniger Patienten tatsächlich an Influenza erkrankt waren.

Möglicherweise sei diese Diskrepanz aber auch darauf zurückzuführen, dass Oseltamivir antientzündliche Effekte habe und die Antikörperantwort verändere.

Pandemie-Bunker aufgefüllt

Es wird außerdem spekuliert, ob Nebenwirkungen des Neuraminidase-Hemmers in den veröffentlichten Studien nicht vollständig genannt wurden.

In den jetzt ausgewerteten Daten wurden zum Teil schwere unerwünschte Wirkungen (zum Beispiel psychische Beeinträchtigung, neurologische Störungen) erfasst, die möglicherweise mit der Therapie in Zusammenhang stehen.

In den beiden am meisten zitierten Publikationen zu Oseltamivir heißt es jedoch, dass "keine schweren Nebenwirkungen" aufgetreten seien.

Die neuen Daten zu Oseltamivir sind auch deswegen so brisant, weil von Regierungen weltweit für Milliarden von Euro Neuraminidase-Hemmer bevorratet werden, um für den Fall einer Influenza-Pandemie gewappnet zu sein.

Grundlage dieser Maßnahme ist eine Empfehlung der WHO aus dem Jahr 2002, mit dem erklärten Ziel, die Symptomdauer bei Erkrankten zu reduzieren und dadurch das Verbreitungsrisiko zu senken.

Verweis auf Daten der US-Regierung

Ob sich dieses Ziel erreichen lässt, ist fraglich: "Die Daten sprechen für eine direkte Wirkung von Oseltamivir auf die Symptome. Aber wir können daraus keine Schlüsse ziehen zum Effekt auf Komplikationen oder das Ansteckungsrisiko", schreiben Jefferson und Kollegen.

Ihrer Einschätzung nach ist es dringend erforderlich, die Wirkungen des Neuraminidase-Hemmers durch unabhängige Forschung zu klären. Bis dahin sei der Einsatz von Oseltamivir, trotz der offenen Fragen, in schweren Fällen "wahrscheinlich gerechtfertigt".

Roche hatte vor zwei Jahren in Reaktion auf ähnliche Vorwürfe von Cochrane-Forschern Daten der US-Regierung zur Wirksamkeit von Oseltamivir bei der H1N1-Pandemie angeführt (NEJM 2009; 361: 1991).

Bei stationär behandelten Patienten sei nur durch antivirale Medikamente binnen zwei Tagen nach Symptombeginn der Verlauf gebessert worden. 90 Prozent dieser Patienten hätten damals Oseltamivir erhalten.

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Kommentare
Dr. Thomas Georg Schätzler 20.01.201214:30 Uhr

Konsequenzen für die Praxis?

Was sollen wir bei Patienten mit klinischem Influenzaverdacht machen? Achselzuckend abwarten, bis knapp je ein Prozent in der Verum- wie in der Placebogruppe wg. Pneumonie und anderen Komplikationen stationär behandelt werden müssen? Trotz problematischer Komorbiditäten (z.B. Atemwegs-, System-, Herzerkrankungen) und beachtlicher Mortalitätsrisiken in therapeutischen Nihilismus verfallen?

Cochrane-Zweifel und kritische Fragen zu Oseltamivir (Tamiflu®) sind ebenso berechtigt wie bohrende Fragen an die Zulassungs- und Aufsichtsbehörden FDA in den USA und BfArM (Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte) in Deutschland. Denn diese haben eine amtliche Zulassung, definierte Indikationen und Fachinformationen veröffentlicht. Bei erkennbarer Invalidität, Irrelevanz und fehlender Spezifität von Studienunterlagen zum Wirksamkeitsnachweis müssen Zulassungen ebenso konsequent entzogen werden, wie sie (irrtümlich) erteilt wurden.

Bei Influenza und der sogenannten H1N1-Pandemie haben sich die Infektionsepidemiologen nicht mit Ruhm bekleckert. Das "Center for Disease Control and Prevention" (CDC) veröffentlichte im MMWR-Report 2011; 60 (2): 1) eine ''Telefonbefragung'' von 220.000 Erwachsenen und 44.000 Kindern und Jugendlichen. Es ging um Influenza-ähnliche Erkrankungen ("influenza-like illness, ILI") mit den 3 banalen Symptomen Fieber und Husten oder Halsschmerzen. Verblüffender Weise ergab die rein symptomorientierte, undifferenzierte Laienbefragung "Schweinegrippe" als einzig denkbare Ursache und wurde auf 310 Millionen USA-Bürger hochgerechnet.

Das deutsche "GrippeWeb" des Robert Koch-Instituts (RKI) ist eine EDV-mäßig aufgepeppte Version der Arbeitsgemeinschaft Influenza (AGI), welche früher schon die "gefühlte" Rate der Häufigkeit akuter respiratorischer Erkrankung und den Anteil von vermuteten oder validierten Influenzainfektionen erfassen sollte. Vgl. http://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/infektionskrankheiten/influenza_grippe/article/671942/per-e-mail-grippe-spur.html#comment
Die jetzt neu gewonnene Erkenntnis, dass "Erkältungen etwa dreimal häufiger als grippeähnliche Erkrankungen" seien, könnte höchstens unerfahrene Mediziner schocken.

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund

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