Modellprojekt

Corona: Mit dem Tübinger Tagesticket zum Schuheshoppen

Die Politik ist in der Corona-Pandemie einem gewaltigen Druck aus der Bevölkerung ausgesetzt, weiter zu öffnen. Ein Modellprojekt aus Tübingen kombiniert jetzt Schnelltests mit Shopping-Möglichkeiten.

Von Tatjana Bojic Veröffentlicht:
Die Initiatorin des Tübinger Modellprojekts „Öffnen mit Sicherheit“, die Notärztin Dr. Lisa Federle.

Die Initiatorin des Tübinger Modellprojekts „Öffnen mit Sicherheit“, die Notärztin Dr. Lisa Federle.

© dpa

Tübingen. Die Menschenschlange vor dem DRK-Fahrzeug in der Tübinger Innenstadt zieht sich etliche Meter. Junge und Alte von auswärts und aus der Stadt, Mann und Frau, Erwachsene und Kinder, sie alle stehen an, um einen Corona-Schnelltest zu machen.

An mehreren Stellen in der Stadt können die Menschen seit Montag kostenlose Tests machen, das Ergebnis wird in einem Tagesticket bescheinigt. Damit kann man in Läden oder zum Friseur. Aber auch Außengastronomie und Kultureinrichtungen wie das Theater dürfen Gäste mit Zertifikat empfangen und bedienen.

Das Modellprojekt „Öffnen mit Sicherheit“ scheint anzukommen in der Universitätsstadt. Von der grün-schwarzen Landesregierung noch vor der Landtagswahl am 14. März abgesegnet, könnte das Projekt weitreichende Folgen für die künftigen Öffnungsstrategien haben.

Drei positiv Getestete bei 4000 Schnelltests

„Seit Beginn am Montag haben wir täglich rund 4000 Schnelltests gemacht“, sagt die Initiatorin, die Tübinger Notärztin Dr. Lisa Federle. Drei positiv Getestete seien bisher herausgezogen worden. Ziel des Projekts ist es laut Federle, den Menschen während der Pandemie mehr Möglichkeiten zu eröffnen. Denn mit vielen Testungen, so Federles Credo, werden diejenigen identifiziert, die sich mit Corona infiziert haben, es aber nicht wissen und deshalb andere anstecken könnten.

Das Modellprojekt wird wissenschaftlich ausgewertet, ab 22. März befragen Medizinstudenten die Getesteten nach ihren Daten. „Bis zum Ablauf der Studie am 4. April wollen wir so erfahren, ob es bestimmte Gruppen gibt, die von Corona besonders betroffen sind“, erklärt Federle.

Alter, Berufsgruppe, Wohnort werden abgefragt

Bisher gebe es dazu keine Daten. „Es könnte doch sein, dass dabei beispielsweise herauskommt, dass Biergärten völlig harmlos sind. Wenn wir das beweisen können in dieser Studie, könnten Biergärten offen sein.“ In der Befragung sollen die Menschen Auskunft geben über ihr Alter, ihre Berufsgruppe, woher sie kommen, wohin sie gehen und wie sie wohnen.

Der Handelsverband Baden-Württemberg sieht den Versuch positiv. Hauptgeschäftsführerin Sabine Hagmann sagt: „Tübingen zeigt uns zudem, wie Schnelltests dabei helfen können, weitere Öffnungsschritte zu unterstützen, ohne Abstriche bei der Sicherheit zu machen.“ Doch der Verband betont gleichfalls, dass dieses Modell nicht so einfach auf andere Gemeinden übertragen werden kann. Notwendig sei ein Strategiewechsel. Denn viele Einzelhändler könnten nur mit „Öffnungs-Shopping“ nach Inzidenzlagen nicht überleben.

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) hat sich in der Corona-Pandemie schon mehrfach durch diverse und provokante Vorschläge hervorgetan. Und Schnelltests waren in Tübingen früh ein Thema.

Spürbarer Effekt bei der Sieben-Tage-Inzidenz

Mit dem Konzept kostenlose Schnelltests für alle war die Universitätsstadt mit ihren rund 89.000 Einwohnern seit Monaten in vieler Munde. Federle hatte in Tübingen bereits Ende November mit Schnelltests begonnen, die sie mit Spenden finanziert. Diese Schnelltests hätten nachgewiesenermaßen einen spürbaren Effekt auf die Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Tübingen, sagt Federle.

Die Aktion wurde vom baden-württembergischen Sozialministerium – allerdings nur in der Vorweihnachtszeit – auf weitere Städte ausgedehnt. Am Donnerstag lag der Landkreis Tübingen bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 52,9. Landesweit lag der Wert bei 89,0.

Aus weiteren Öffnungsschritten ab kommendem Montag wird in Baden-Württemberg erstmal nichts. Die landesweit steigenden Corona-Infektionszahlen geben das nicht her. Der Öffnungsschritt, auf den sich Bund und Länder bei ihrer Konferenz Anfang März geeinigt hatten, hätte weitere Lockerungen für Kreise mit einer Sieben-Tage-Inzidenz unter 50 oder zwischen 50 und 100 vorgesehen.

Mehr Konzepte, weniger allgemeine Regeln

Eine neue Allgemeinverfügung von Palmer indes regelt explizit, dass der Einzelhandel im Stadtgebiet ebenso wie die Außengastronomie und die Kultur während der Geltungsdauer des Modellversuchs ohne Terminvereinbarung geöffnet bleiben können, auch wenn die Inzidenz im Kreis über den Wert von 50 steigen sollte.

„Unser Modell wird weiter durchgeführt“, sagt Palmer. Der grüne Politiker sieht das Projekt in seiner Stadt als ein Beispiel, um den Menschen während der Pandemie mehr Möglichkeiten zu eröffnen. Mehr Konzepte, dafür weniger allgemeine Regeln, das ist seine Devise.

In der Schlange für eine Testung steht auch Bettina Walz aus Bondorf im Kreis Böblingen. „Ich bin zum ersten Mal hier. Ich bin gekommen, weil ich dringend neue Laufschuhe brauche“, erzählt sie. Das Tübinger Projekt findet sie gut. „Es wäre toll, wenn es funktioniert, auch woanders“, sagt sie. Nach einem Jahr Corona seien viele Menschen ungeduldig geworden und bräuchten mehr Freiheiten. (dpa)

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