Zwei Ärzte berichten

"Es war wie die Hölle"

Die Körper mit Blasen übersät, blutend und verzweifelt: So sahen Arzt und Sanitäter die Überlebenden des ersten Giftgasangriffes auf zwei irakische Kurdendörfer im April 1987. Es war der Beginn einer Vernichtungsaktion Saddam Husseins gegen die kurdische Minderheit. Zwei Ärzte schildern ihre Erlebnisse.

Von Verena Kienast Veröffentlicht:
Gedenktafel: Mehr als 5000 Bewohner der Stadt Halabja starben am 16. März 1988 durch einen Giftgasangriff.

Gedenktafel: Mehr als 5000 Bewohner der Stadt Halabja starben am 16. März 1988 durch einen Giftgasangriff.

© Kienast

ARBIL. Schneebedeckt sind die Berge wie damals. Die ersten Obstbäume beginnen zu blühen. Erinnerungen an eine Gräueltat des irakischen Diktators Saddam Hussein erwachen. Man hofft, dass die Welt dieses Mal zuhört.

Vor 25 Jahren wurden etwa 5000 Einwohner der kurdischen Stadt Halabja im Nordirak durch Giftgas getötet. Vor allem die politische Welt blickte damals weg.

Die von Saddam Hussein proklamierte Anfal-Kampagne sollte die aufmüpfigen Kurden beseitigen und eine "Sicherheitszone" zum Iran einrichten.

Erster Giftgasangriff

Rache und Vergeltung gegen unerwünschte Allianzen veranlassten Saddam Hussein in den 80er Jahren zum Einsatz chemischer Waffen nicht nur gegen die Soldaten des damaligen Kriegsgegners Iran, sondern auch gegen die Kurden.

Bereits am Abend des 16. Aprils 1987 wurden erstmals zwei Dörfer im Balisan-Tal mit Giftgas angegriffen.

"Zehn Helikopter und vier bis sechs Kampfflugzeuge flogen über die Ortschaften und warfen Bomben ab", erzählte Dr. Zyryan Yones im Gespräch mit "SpringerMedizin" im nordirakischen Arbil.

Als Arzt begleitete er die irakisch-kurdische Kampftruppe, die Peshmerga. "Die Explosion klang nicht wie eine konventionelle Bombe. Es war ein dumpfes Geräusch und ein eigenartiger Geruch wie nach Knoblauch oder faulen Äpfeln verbreitete sich. Dann war Stille."

Der Arzt und seine sechs Helfer warteten auf Verletzte. Niemand kam.

Wer nicht flüchten konnte, wurde verschleppt

Nach einigen Stunden durchbrach beängstigender Lärm die Stille: Laute Stimmen, Schreie, Weinen. In der Dämmerung stolperten Menschen teilweise blind auf das Lager zu. Ihre Körper von Blasen bedeckt, blutend, verzweifelt.

"Es war wie die Hölle", beschreibt Zyryan: "Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir hatten keine Erfahrung mit chemischen Waffen und keine Medikamente."

Irakische Bodentruppen kamen, um die Zerstörung zu vollenden. Wer nicht flüchten konnte, wurde verschleppt. Tausende Ortschaften wurden zwischen 1987 und 1989 völlig zerstört, insgesamt 182.000 Menschen verschwanden.

Für die Anfal-Operation wurde Saddam Hussein später angeklagt. Verurteilt wurde er nicht - wegen eines anderen Massakers wurde er vorher hingerichtet.

Fast alle Organe geschädigt

Die Schäden durch den Giftgasangriff blieben: Die Wunden der Betroffenen waren leicht mit Brandverletzungen zu verwechseln. Die tatsächliche Schädigung reichte tiefer, erfasste alle Organe, die Lunge, die Augen.

"Was ich sah", sagt Professor Gerhard Freilinger heute, "hat mich mit Grauen erfüllt." Der österreichische plastische Chirurg, ein Pionier der Kriegschirurgie, wurde früh zur Behandlung hinzugezogen.

Die Ursache war zunächst nicht klar. Konsultierte Toxikologen aus Europa stellten den Befund Giftgas, wobei die Behandlung aufgrund der mangelnden Erfahrung schwierig war.

Mehrere Patienten wurden in Wien behandelt, immer wieder reiste Freilinger in den Iran und die kurdische Region im Irak.

Deutlich mehr Missbildungen

Die Spätfolgen der chemischen Substanzen wirken bis heute: Die Rate kongenitaler Herzfehlbildungen, Lippen-Gaumenspalten und Leukämiefällen ist gestiegen, berichtet Zyryan. Auch soll es deutlich mehr Feten mit Missbildungen geben.

"Die internationale Gemeinschaft war stumm", sagte der kurdische Premierminister Nechirvan Barzani zum Jahrestag des Massakers am 16. März in Halabja.

Dort forderten auch kurdische und internationale Politiker, die Vernichtungsaktionen gegen die Kurden als Völkermord international anzuerkennen.

Die neue irakische Regierung hat dies bereits getan - ebenso Schweden, die Niederlande, Norwegen und Großbritannien.

"Niemand hat das Recht, sein eigenes Volk zu töten", sagte der ehemalige französische Außenminister, Bernard Kouchner, selbst Arzt.

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Kommentare
Dr. Segei Jargin 11.08.201316:29 Uhr

Notizen über das Gesundheitswesen im Irak

Nach einem Engagement am Bagdader Lehrkrankenhaus und einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in Mai-Juli 2003 habe ich über einige Aspekte vom Gesundheitswesen im Irak berichtet (1). Im April 2013 war ich an einem Krankenhaus in Nasiriyah tätig und habe außerdem medizinische Eirichtungen in Bagdad und Kirkuk besucht. Einige Besserungen seit 2003 sind erkennbar. Viele moderne Geräte wurden in der letzten Zeit erworben. Das Pflegepersonal ist zahlreicher geworden, wobei nachts nicht nur Krankenbrüder sondern auch Krankenschwester eingesetzt werden. Das männliche Pflegepersonal überwiegt allerdings bei weitem. Nach wie vor beklagen sich viele Ärzte dass ärztliche Verordnungen nicht immer regelrecht ausgeführt werden (1). Die Laboratorien sind heute besser ausgerüstet; es werden jedoch nicht alle vorhandenen Geräte benutzt. So steht zum Beispiel ein Kryostat ohne Betätigung herum, und die Gefrierschnittsuntersuchungen werden nicht gemacht. Nur die Hämatoxylin-Eosin-Färbung wird in der Histopathologie und Zytologie benutzt, wobei die Qualität der Schnitte bestenfalls als mäßig zu bezeichnen ist. Der wichtigste Mangel am Institut für Pathologie ist eine sehr lange Befundungszeit (vom Eintreffen einer Gewebsprobe bis zum Zeitpunkt, wenn das Bericht in die Klinik geschickt wird): bis zu einem Monat oder länger. Dafür gibt es zwei ofensichtlichen Gründe. Erstens, eine mangelhafte Organisation der Arbeitsabläufe im Labor. Zweitens, die Nebentätigkeiten der Pathologen, und auch der Ärzte anderer Fachrichtungen, die neben ihrer Tätigkeit im Krankenhaus auch Privatpraxen betreiben. Den privaten Fällen wird offenbar mehr Aufmerksamkeit gewidmet, was die Patientenversorgung im öffentlichen Sektor benachteiligt. Es wird verständlicherweise danach bestrebt, dass zahlungsfähige Patienten sich bevorzugt an die Privatpraxen wenden. Das ist nicht nur eine Zeitfrage: mehr Zeit für die Untersuchung eines Patienten im privaten Sektor, eine kürzere Befundungszeit in einem privaten Labor usw. Das geht auch um die Qualität. In den klinischen Fachrichtungen wie die Endoskopie werden die Prozeduren im öffentlichen Sektor manchmal unter einem Zeitdruck durchgeführt werden. Für eine bessere Organisation der Arbeitsabläufe in den Laboratorien wäre die Einladung erfahrener leitender MTA aus dem Ausland zu empfehlen.

Ein wichtiger Unterschied zwischen den Jahren 2003 und 2013 liegt nicht im Bereich der Medizin. Nach der Ankunft in Nasiriyah im April 2013 wurde ich in einem Gasthaus beim Krankenhaus untergebracht. Erstaunlicherweise wurde das Hinausgehen aus dem Gasthaus ohne Begleitpersonen verboten, was ein längeres Sitzen im Gasthaus bedeutete: der Arbeitstag in den öffentlichen Diensten einschließlich Gesundheitswesen dauert bis ungefähr 13-14.00. Die angebliche Ursache war die mangelnde Sicherheit. Der Reisepass wurde weggenommen. Über diese Bedingungen wurde ich im voraus nicht informiert, andernfalls wäre ich nach dem Irak nicht gekommen. Im April gab es wegen der Wahlen 5 freie Tage nacheinander. Nicht im Begriff 5 Tage eingesperrt zu sitzen, habe ich aus dem Krankenhaus hinausgegangen, ein Taxi bis zum Busterminal genommen und dann nach Bagdad und Kirkuk gereist. Auf dem Rückwege wurde ich mangels des Reisepasses verhaftet, übernachtete an einem Polizeirevier, und wurde dann zurück nach Nasiriyah transportiert. Inzwischen wurden meine im Gasthaus gebliebenen Personalcomputer und i-phone zeitweilig von der Polizei beschlagnahmt, wobei einige Dateien offensichtlich manipuliert wurden. Das Gasthauspersonal nutzt die unterprivilegierte Lage ausländischer Mediziner, rutscht leicht zur Familiarität und Bevormundung ab. Zum Schluss soll auch erwähnt werden, dass die Sachlage im Irak nach dem Weggang der Koalitionskräfte zurück zum Ausgangszustand rollt, was auch vorauszusehen war.

1. Jargin SV. Nursing and security in Iraqi hospitals. International Journal of Nursing Practice 2009;15(3):129-30.



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