Flüchtlingsversorgung

"Man sieht ganz schlimmes Leid"

Pensionierte Mediziner kümmern sich im mittelhessischen Wetzlar um kranke Flüchtlinge. Eine 73-jährige Ärztin hat die "Rentner-Gang" zusammengetrommelt. Ihre Kollegen fürchten den nahenden Winter.

Von Sandra Trautner Veröffentlicht:
Dieser Flüchtling aus dem syrischen Homs wird im Camp in Wetzlar von der Ärztin Ingrid Knell geimpft.

Dieser Flüchtling aus dem syrischen Homs wird im Camp in Wetzlar von der Ärztin Ingrid Knell geimpft.

© Roessler / dpa

WETZLAR. Ein Kleinkind mit Bronchitis, ein alter Mann mit Rückenschmerzen, Vater und Sohn mit Bindehautentzündung. Krankheiten, wie sie in jeder Hausarztpraxis vorkommen könnten - aber diese Patienten sind Flüchtlinge.

Sie leben in einer Zeltstadt in Mittelhessen. Die Krankheiten kommen nicht von ungefähr, betonen die Ärzte, die sich in Wetzlar freiwillig und unentgeltlich um kranke Asylsuchende kümmern.

"In den Zelten zieht es nachts", sagt der Arzt, der den Alten mit dem schmerzenden Rücken behandelt. Er gibt ihm eine Salbe, zeigt ihm Dehnübungen und organisiert ihm eine zweite Decke.

"Die hygienischen Verhältnisse sind nicht so toll", erklärt seine Kollegin, als sie die entzündeten Augen sieht. Einmal mit schmutzigen Händen ins Gesicht fassen, und schon ist es geschehen.

Pro Arzt bis zu hundert Patienten

470 Menschen leben laut Regierungspräsidium zurzeit in der Notunterkunft in Wetzlar, zeitweilig waren es mehr als 800. In den Camps gebe es zu wenige Mediziner, sagt Ärztin Ingrid Knell.

Deswegen hat sie mit dem Roten Kreuz eine Nothilfe-Praxis gegenüber dem Lagereingang aufgebaut. Die wenigen Kollegen im Camp seien "total überfordert". "Was die leisten, ist mörderisch." Auf einen Arzt kämen bis zu 100 Patienten am Tag.

Die Ärzte in der Erstaufnahme würden "bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten arbeiten", bestätigt Hessens Ärztepräsident Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach. "Die ärztliche Versorgung hinkt hinterher."

Im August schickte er einen Brandbrief an seine Kollegen: Jeder werde gebraucht, "ganz gleich, ob Vertragsarzt mit Zeit in den Abendstunden, Krankenhausarzt mit Kapazitäten am Wochenende, Ärzte in Familienzeit oder im Ruhestand."

Knell war 40 Jahre lang angestellte Betriebsärztin, seit 25 Jahren ist sie beim Roten Kreuz aktiv. "Ich bin nicht der Typ, der die Füße still hält", sagt die 73-Jährige.

Gerade mal zwei Wochen brauchte sie, um die Behelfs-Praxis aus dem Boden zu stampfen: Eine Physiotherapeutin und ein Sportverein stellten Räume zu Verfügung. Das Rote Kreuz kümmerte sich um Logistik, Gerätschaften und Medikamente. Das Regierungspräsidium vermittelte Übersetzer.

Ärzte im Ruhestand helfen

Knell überzeugte Kollegen mitzumachen. Inzwischen sind acht Ärzte dabei: Allgemeinmediziner, Internisten, Kinderärzte, sogar ein Traumatologe. Viele haben Erfahrungen in Entwicklungsländern oder in der Katastrophenhilfe. Alle Ärzte sind im Ruhestand und arbeiten ehrenamtlich.

Seit Mitte Juli ist Dienstag und Freitag Sprechstunde. Das Wartezimmer ist die Laderampe vor der Tür. Im Foyer steht ein halbes Dutzend Übersetzer. Zwei Freiwillige vom DRK arbeiten als Sprechstundenhilfe. An einem durchschnittlichen Tag kommen 50 oder 60 Patienten, manchmal sind es auch 150.

Vor einigen Wochen gab es Fälle von Hepatitis A. Alle Bewohner mussten zur Blutabgabe und wurden geimpft, wenn sie keinen Schutz hatten. Die Rot-Kreuz-Praxis griff den Kollegen von der Erstaufnahme unter die Arme, damit das schneller ging.

Niemand durfte aus dem Lager in eine Kommune verlegt werden. Inzwischen sind alle immunisiert und dürften eigentlich raus aus den Zelten. "Aber jetzt sind uns Windpocken dazwischen gekommen", sagt Knell.

"Die Flüchtlinge stellen unser Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen", sagt Internist Klaus-Dieter Wolkewitz. Es gebe in den Lagern Krankheiten, "die viele junge Mediziner noch nie gesehen haben", zum Beispiel Tuberkulose. Zwar werden alle Neuzugänge bei der Erstuntersuchung geröntgt, um die Krankheit auszuschließen.

Statt einer Krankenkassenkarte geben die Patienten den Hausausweis des Flüchtlingslagers ab. Unter der jeweiligen Identifikationsnummer werden Diagnose und Behandlung erfasst.

Politisch wird gerade diskutiert, ob Flüchtlinge eine Gesundheitskarte bekommen sollen, um ihre medizinische Versorgung zu erleichtern. Bisher kann man sie nicht mal mit einem Rezept in die Apotheke schicken. Deswegen liegen für die meisten Fälle die Medikamente griffbereit.

Die hessische Erstaufnahme kümmert sich derzeit um knapp 15.000 Asylsuchende an 20 Standorten, darunter viele Zeltstädte. Aktuell seien 150 Ärzte an verschiedenen Orten tätig", so eine Sprecherin des Regierungspräsidiums.

 "Mehrere Hundert Patienten" würden täglich behandelt oder begutachtet. Erstuntersuchung würden "zunehmend dezentral" in Kliniken, Röntgenpraxen und bei niedergelassenen Ärzten durchgeführt.

In Wetzlar häufen sich derzeit Infektionen. Dazu kommen Krankheiten, die Flüchtlinge aus ihrer Heimat mitbringen, wie etwa Malaria. Probleme, die deutsche Mediziner selten sehen. Verletzungen, die auf der Flucht entstanden sind: Schürfwunden, Prellungen, Schnittwunden. Probleme von Massenunterkünften wie Läuse.

"Manchmal muss ich mitweinen"

"Man sieht ganz schlimmes Leid", berichtet Knell. Eine junge Frau habe wegen der psychischen Belastung alle Haare verloren, und ihre Regelblutung blieb aus. Ein kleines Kind mit einer langen, grob zusammengeflickten Narbe auf dem Kopf sei völlig durchgedreht, als Knell ihm die Mütze vom Kopf nahm.

Eine halbe Stunde habe sie gebraucht, das brüllende, um sich schlagende Kind zu beruhigen. Junge Syrer, "gebildete Männer aus wohlhabenden Familien", weinten über die Zerstörung von Damaskus. "Manchmal muss ich mitweinen."

Am Freitag hatten Flüchtlinge zwischen Lager-Eingang und Arztpraxis einen Sitzstreik organisiert. Kinder hielten Pappen hoch: "85 days in tent" (85 Tage im Zelt) und "home no camp" (ein Heim, kein Lager). Noch immer gilt für die Flüchtlinge in Wetzlar ein medizinisch begründeter Verlegungs-Stopp.

Noch immer können sie nicht auf die Kommunen verteilt werden und vor dem Winter auf ein festes Dach über dem Kopf hoffen. "Die Arbeit geht uns bestimmt nicht aus", sagt Knell.  (dpa)

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