Trauernde Angehörige
"Symbolische Handlungen sind wichtig"
Sie haben ihre Kinder, Enkel, Eltern oder Geschwister verloren: Die Familien der Opfer des Flugzeugabsturzes stehen unter Schock. Ein Psychotherapeut erklärt, wie ihnen geholfen werden kann, das Unbegreifliche zu verarbeiten.
Veröffentlicht:BRAUNSCHWEIG. Weltweit trauern Menschen um die Opfer des Flugzeugabsturzes in Südfrankreich, bei dem am Dienstag 144 Passagiere und sechs Besatzungsmitglieder gestorben sind.
An Bord waren nach neuen Angaben 72 Deutsche, darunter 16 Schüler und zwei Lehrerinnen aus Haltern. Angehörige der Opfer sind am Mittwoch an die Unglücksstelle in den französischen Alpen gereist, um Abschied zu nehmen.
Ein Ritual, das für die Verarbeitung der Trauer eine hohe Bedeutung hat, wie Privat-Dozent Christoph Kröger, Geschäftsführender Leiter der Psychotherapieambulanz an der Technischen Universität Braunschweig, betont.
Auf eine solche Nachricht reagierten Betroffene mit einer tiefen Verunsicherung, so Kröger. "Die Information widerspricht einer zentralen Grundannahme. In diesem Fall, dass Flugzeuge sicher sind, darüber denken wir normalerweise gar nicht nach."
Die darauf einsetzende Trauer, vermutet er, werde wohl länger währen, da die Angehörigen auf so ungewöhnliche Weise aus dem Leben geschieden sind.
Das hänge aber auch davon ab, welche Verlusterfahrungen die Betroffenen in der Vergangenheit schon gemacht haben und welche soziale Unterstützung sie erhalten.
Verabschiedungsritual ist wichtig
"Unmittelbar ist es sicher wichtig, dass die Familien zusammenkommen", so Krögers Erfahrung.
Allgemein gebe es sehr unterschiedliche Trauerreaktionen, für die es einerseits einen Raum geben, die man andererseits jedoch auch lenken müsse, vor allem wenn sich Betroffene gänzlich anders verhalten als erwartet.
Eine zentrale Bedeutung komme der Frage zu, in welcher Form man sich von seinen verstorbenen Angehörigen verabschieden kann.
"Das wird im aktuellen Fall ein großes Problem sein", so Kröger, "weil man mit hoher Wahrscheinlichkeit die meisten Menschen nicht wiedersieht."
Im Fernsehen habe er einen Journalisten von Leichenteilen sprechen hören, erzählt Kröger, das dürfe man gegenüber den Angehörigen auf gar keinen Fall tun.
"Für sie sind das immer noch Menschen, Klaus oder Katharina, unser Gehirn stellt sich nicht so schnell um, dass das jetzt ein Toter ist, was in diesem Fall noch besonders schwierig ist, weil wir diesen Toten gar nicht mehr sehen."
Da die meisten Opfer höchstwahrscheinlich verbrannt seien und es daher eine klassische Beerdigung voraussichtlich nicht gebe, müsse man andere symbolische Handlungen vornehmen, um den Verarbeitungsprozess zu unterstützen.
In der Familie könne eine solche Handlung beispielsweise das gemeinsame Erinnern an den Verstorbenen sein. Weiterhin fänden Gottesdienste statt, um der Opfer zu gedenken, an der Schule in Haltern zündeten Trauernde Kerzen an.
Bei einem Unglück wie dem Flugzeugabsturz vom Dienstag seien zentrale Abschiedsfeiern und eine Gedenkstelle wichtig, ein Ort, an dem die Angehörigen trauern können.
Möglicherweise werde eine solche Gedenkstätte ja in dem Dorf eingerichtet, das der Absturzstelle am nächsten liegt.
"Ich hatte den Eindruck, dass es vor Ort viele engagierte Personen gibt", sagt Kröger. "Das ist wichtig, ebenso dass alle zusammenarbeiten und dabei ihr Bestes geben."
Netzwerk an Helfern steht bereit
Für die weitere Betreuung der Familien und Freunde in den kommenden Wochen oder Monaten sei das dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zuständig, erklärt der Braunschweiger Psychotherapeut.
Eine spezielle Abteilung des Amts stehe mit Netzwerken von Psychotherapeuten, Ärzten und Seelsorgern in Verbindung, zu denen er auch gehöre und die bei Bedarf kontaktiert würden, um die Versorgung Betroffener vor Ort zu übernehmen.
Die sehe je nach Bedarf sehr unterschiedlich aus. Manchmal reichten schon ein oder zwei Gespräche, in einigen Fällen sei aber auch eine längere Psychotherapie notwendig.
Sollten Menschen aus Niedersachsen unter den Opfern des Flugzeugabsturzes sein, werde die Betreuung der Angehörigen durch das enge Netzwerk von Psychotherapeuten und Seelsorgern in Niedersachsen gewährleistet.
Trauerreaktionen nach derartigen Ereignissen können sehr komplex ausfallen, sagt der Experte.
Viele stellen sich die letzten Minuten vor
Einige Angehörige erinnern sich ständig an den Verstorbenen oder stellen sich seine letzten Minuten vor, andere sehnen sich danach, den Toten wiederzusehen oder sorgen sich darum, wie sie den Alltag nun ohne ihn bewältigen können, manche entwickelten in ihrer Trauer auch Suizidgedanken.
"Ein Klassiker ist, dass die Gegenstände, das Zimmer des Verstorbenen nicht angerührt werden, weil sie eine besondere Bedeutung bekommen", so Krögers Erfahrung. "Das währt oft eine lange Zeit, im schlimmsten Fall über ein Jahr."
Während dieser Zeit sei eine ortsnahe Betreuung sehr wichtig. "Von professioneller Seite muss man da auch die Bereitschaft haben, in die Familien zu gehen.
"Um die Helfer vor Ort, die derzeit an der Unglücksstelle die Opfer bergen, macht sich der Braunschweiger Psychotherapeut weniger Sorgen.
"Die sind in der Regel gut ausgebildet und auf solche Einsätze trainiert. Inzwischen gibt es innerhalb der Organisation auch Standards, dass die Helfer zum Beispiel regelmäßige Pausen machen und nicht stundenlang Leichenteile einsammeln.
Aus den Erfahrungen vorheriger Ereignisse hat man deutlich gelernt und sorgt sich auch nach dem Einsatz um seine Mitarbeiter."
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