Lehren aus Pandemie
‚Ärmel hoch‘ reicht nicht: Wenn Politik ihr Handeln erklären muss
Die Corona-Pandemie hat bei Politikern und Kassen-Managern unterschiedliche Lernerfahrungen produziert. Bei der Veranstaltung der AOK Rheinland/Hamburg wurde die Bandbreite deutlich.
Veröffentlicht:Korschenbroich. In Ausnahmesituationen wie einer Pandemie muss die Politik nachvollziehbar machen, warum und auf welcher Basis sie Entscheidungen trifft. „Wir haben nicht transparent genug gemacht, wie breit die Einbindung der Wissenschaft erfolgt“, sage Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei der hybriden Veranstaltung „AOK im Dialog“ der AOK Rheinland/Hamburg in Korschenbroich am Niederrhein.
Die Politik habe sich nicht nur von Virologen beraten lassen, sondern auch von Ärzten und Sachverständigen aus anderen Bereichen. Spahn hält den interdisziplinären Austausch für wichtig, aber nichts davon, ihn an einer Stelle wie einem Pandemierat zu bündeln. „Man muss aufpassen, dass man nicht ein Gremium mit allen Themen überfrachtet.“
Pandemie verschärft Ungleichheit
Sorgen macht ihm, dass die Pandemie soziale Ungleichheiten in Deutschland verstärkt hat, etwa bei Kindern. „Es haben diejenigen besonders gelitten, die es sowieso schon schwer hatten.“ Aber auch die Ungleichheit bei den Einkommen habe zugenommen. Auf solche Entwicklungen müsse man reagieren, sagte der CDU-Politiker.
Er findet, dass die Finanzierung der GKV fairer gestaltet werden muss und nicht nur die Beitragszahler belastet werden. „Über den Steuerzuschuss kann man eine gerechtere Finanzierung schaffen.“ Er stellte sie für die Jahre 2022 bis 2024 in Aussicht. Für die Kassen ist vor allem eine verlässliche Finanzierung entscheidend, sagte Günter Wältermann, der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg. Grundsätzlich funktioniere das beitragsfinanzierte Solidarsystem gut. „Der Steuerzuschuss ist eine außergewöhnliche Antwort auf eine außergewöhnliche Situation.“
Langfristig wünscht sich Wältermann eine stärkere Einbindung der Kassen in politische Entscheidungen. Sie könnten in der Versorgung der Versicherten eine stärkere Rolle spielen als bisher. „Was wir dafür brauchen, sind Echtzeitdaten.“
„Mehr niedrigschwellige Angebote“
Die Kassen sollten verstärkt als Akteure wahrgenommen werden, findet auch Wältermanns Vorstandskollege Matthias Mohrmann. Handlungsbedarf sieht er gerade bei der Versorgung von Menschen aus sozioökonomisch schlechter gestellten Gruppen. Das gelte auch für die Corona-Impfung. „Wir brauchen mehr niedrigschwellige Angebote“, betonte Mohrmann. Hier sei gezielte Aufklärung notwendig. „Uschi Glas auf der Litfaßsäule hilft da nicht“, sagte er unter Anspielung auf die bundesweite Impfkampagne.
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen Maria Klein-Schmeink mahnte Unterstützung für die von der Pandemie stark betroffenen Kinder und Jugendlichen an. Sonst erhöhe sich das Risiko chronischer psychischer Erkrankungen. Sinnvoll wären Sonderzulassungen für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, sagte sie. „Ich wünsche mir schnelles Handeln.“
Streeck: Erst einmal an der Empfehlung der STIKO orientieren
Der SPD-Gesundheitspolitiker Professor Karl Lauterbach hofft, dass die STIKO ihre Entscheidung zur Corona-Impfung bei 12- bis 16-Jährigen noch einmal überdenkt. „Mir erscheint bei ihnen die Impfung als ungefährlicher als die Erkrankung“, sagte er. Grundsätzlich sollte man die Jugendlichen nach entsprechender Aufklärung in die Entscheidung einbeziehen. „Ich würde nie ein Kind impfen, das es selbst nicht will.“
Der Virologe Professor Hendrik Streeck plädierte dafür, sich jetzt erst einmal an der STIKO-Empfehlung zu orientieren, auch um die Verunsicherung nicht zu erhöhen. In den nächsten Wochen sei es wichtig, den Menschen deutlich zu machen, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist. Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, hält Streeck eine gute Kommunikation und weitere Kampagnen für notwendig. „Sie müssen mehr sagen als ‚Ärmel hoch‘. Das muss erklärt werden.“